Berlin, 14.04.2021 – Wer einen Arzt aufsucht, will nach dem neusten Stand der Wissenschaft behandelt werden. Doch die Entwicklungen in der Medizin schreiten rasant voran. Medizinische Leitlinien sollen deshalb Orientierung geben. Was medizinische Leitlinien leisten können, wie objektiv sie sind und wo auch Patienten Einblick in diese Goldstandards der Behandlung erhalten können – ein Überblick.

Nicht jeder Arzt, jede Ärztin kann alles wissen. Und manche Behandlungen sind einfach zu komplex, um sofort einen Behandlungsplan parat zu haben. Auch der wissenschaftliche Fortschritt ist oft schnell und schwer zu überblicken. Bei der Entscheidung für oder gegen eine Untersuchung oder Therapie können deshalb sogenannte Leitlinien helfen. Sie geben Empfehlungen, wie eine Krankheit angemessen diagnostiziert und behandelt werden soll. Einige medizinische Leitlinien gibt es auch als Version für Patientinnen und Patienten. Betroffene können so besser abwägen - auf Augenhöhe mit der Ärztin oder dem Arzt.

Was ist eine medizinische Leitlinie? Button: Infokorb-Ablage In den Infokorb legen

Eine medizinische Leitlinie ist eine systematisch, wissenschaftlich entwickelte und praktische Orientierungs- und Entscheidungshilfe für Ärztinnen und Ärzte. Sie gibt einen Überblick über den Forschungsstand zum Nutzen und Schaden bestimmter Therapiemöglichkeiten und spricht teilweise starke Empfehlungen für oder gegen eine bestimmte Therapie aus. Damit kann sie helfen, die passende Untersuchung oder Behandlung auszuwählen. 

Eine Leitlinie kann natürlich nicht jeden Einzelfall abdecken. Vielmehr gibt sie einen Handlungskorridor vor, von dem in begründeten Fällen abgewichen werden kann oder sogar muss. Ein Grund können Begleiterkrankungen sein, die ein anderes, individuelles Vorgehen erfordern.

Wer erstellt Leitlinien? Button: Infokorb-Ablage In den Infokorb legen

Verfasst werden Leitlinien von den medizinischen Fachgesellschaften. An der Entwicklung sind aber in vielen Fällen auch Patientenorganisationen beteiligt. Derzeit sind mehr als 760 Leitlinien bei der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) abrufbar, erstellt nach international anerkanntem Standard. Dazu gehören etwa Leitlinien zur Behandlung von Herzkrankheiten, Kreuzschmerzen oder Adipositas, zur Behandlung von Hautkrankheiten, zur Chemotherapie oder Geburtshilfe. Ziel ist es, Forschungserkenntnisse in die Praxis zu bringen. Das kann aber durchaus dazu führen, dass von gängigen Untersuchungen, Behandlungen oder Arzneimitteln abgeraten wird – weil es nun neue Erkenntnisse dazu gibt.

Warum sind Leitlinien notwendig? Button: Infokorb-Ablage In den Infokorb legen

Insgesamt helfen Leitlinien, das medizinische Wissen zu ordnen. Denn pro Jahr erscheinen hunderttausende neue Studien – kein Arzt, keine Ärztin kann da allein den Überblick behalten. Auch für Patienten und Patientinnen kann es hilfreich bei der Entscheidungsfindung sein, den Standard zu kennen und zu wissen, wann davon abgewichen werden kann.

Leitlinien helfen Ärzten und Ärztinnen aber nicht nur, mit dem aktuellen Forschungsstand Schritt zu halten – sie tragen auch dazu bei, unnötige oder gar schädliche Maßnahmen zu vermeiden . Bei Rückenschmerzen zum Beispiel enthält die „Nationale Versorgungs-Leitlinie“ zum nicht-spezifischen Kreuzschmerz eine sehr lange Liste, was alles nicht gemacht werden soll: u. a. keine bildgebende Diagnostik (außer es liegen relevante Hinweise auf gefährliche Verläufe vor), keine routinemäßige Laboruntersuchung, kein Kinesio-Taping, keine Ergotherapie und keine Massage bei akuten Kreuzschmerzen, keine Spritzen und keine Operationen. Der Grund in der Regel: Studien zeigen keinen Nutzen oder sogar einen Schaden. Neben Negativ-Empfehlungen gibt es in den Leitlinien auch Positiv-Empfehlungen.

Wie gut ist die wissenschaftliche Qualität medizinischer Leitlinien?

Leitlinien werden in vier verschiedene Klassen oder Stufen eingeteilt. Je höher die Einstufung, desto sicherer ist die Aussagekraft:

  • S1-Leitlinien sind Handlungsempfehlungen von Expertengruppen.
  • S2k-Leitlinien werden von einem Gremium erarbeitet, das repräsentativ ist für das Fachgebiet. Die Empfehlungen basieren auf einer strukturierten Konsensfindung.
  • S2e-Leitlinien sammeln Wissen systematisch, es fehlt aber eine strukturierte Konsensfindung.
  • S3-Leitlinien haben die höchste Qualitätsstufe, denn das Wissen wird nach klaren Vorgaben gesammelt (systematische Literaturrecherche) und bewertet.

In allen Leitlinien-Typen werden die Methodik und auch mögliche Interessenkonflikte dargelegt. Wer die Leitlinie bei der AWMF, dem offiziellen Netzwerk der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften in Deutschland, anmelden möchte, muss zudem weitere Qualitätskriterien erfüllen. Aber der Begriff „Leitlinie“ ist nicht geschützt. Es gibt auch Leitlinien ohne die beschriebenen Standards.

Wie objektiv sind medizinischen Leitlinien tatsächlich? Button: Infokorb-Ablage In den Infokorb legen

Trotz aller Bemühungen, die Qualität der Leitlinien zu steigern, gab es in den letzten Jahren immer wieder Kritik an der Methodik und der Qualitätssicherung. Bemängelt wird u. a. die Verflechtung von Leitlinienautoren und -autorinnen mit der pharmazeutischen Industrie, z. B. durch Beraterverträge, Vortragshonorare und der Beteiligung an der Studienfinanzierung. Kritiker wie die Organisation „Leitlinienwatch“ fordern deshalb, dass diejenigen, die für einen Pharmakonzern arbeiten, nicht dessen Produkte in einer Leitlinie bewerten sollten. Einzelne Fachgesellschaften haben darum zusätzliche methodische Vorkehrungen getroffen, um einen Einfluss der Pharmaindustrie zu verhindern. 

Auch dauert es mitunter mehrere Jahre, bis eine Leitlinie fertiggestellt oder aktualisiert und veröffentlicht ist. Gibt es in der Zwischenzeit aktuelle Erkenntnisse, die den Behandlungsstandard nachhaltig beeinflussen, werden diese unter Umständen in der Leitlinie nicht berücksichtigt.

Wo werden Leitlinien in der Praxis eingesetzt? Button: Infokorb-Ablage In den Infokorb legen

Ob eine Leitlinie in der Praxis zum Einsatz kommt, hängt stark vom jeweiligen Arzt bzw. Ärztin und dem jeweiligen Fachgebiet ab. Wie eine Befragung von Hausärztinnen und Hausärzten in Hessen aus dem Jahr 2020 ergab, richtet rund die Hälfte der Hausärzte ihre Entscheidungen in Diagnostik und Therapie an den vorhandenen Leitlinien aus. Allerdings sehen auch fast 60 Prozent der Befragten darin eine Beschränkung der ärztlichen Handlungsfreiheit. In zertifizierten Krebszentren hingegen gehört eine leitliniengerechte Behandlung mittlerweile weitgehend zum Standard. Im Rahmen des Programms für Nationale Versorgungs-Leitlinien gibt es verstärkte Bemühungen, die fachübergreifenden Empfehlungen in der Praxis zu verankern. 

Außerdem kommen Leitlinien in Fort- und Weiterbildungen und in Facharztprüfungen zum Einsatz sowie bei gesetzlich geregelten Früherkennungsprogrammen oder zentral organisierten Behandlungsprogrammen für chronisch Kranke (DMP). 

Was bringen Leitlinien den Patienten und Patientinnen? Button: Infokorb-Ablage In den Infokorb legen

Die AWMF, die die Leitlinienarbeit koordiniert, sieht es als gut belegt an, dass Leitlinien die Versorgung verbessern. Ein Beispiel dafür ist die Brustkrebs-Leitlinie. Seit die Fachgesellschaften 2017 ihre Empfehlungen angepasst haben, wird in den Krebszentren die Therapie stärker leitliniengerecht am individuellen Risiko der Patientin ausgerichtet. In vielen Fällen ist dies mit einer weniger aggressiven Therapie und weniger Nebenwirkungen verbunden. Leitlinien stoßen auch Debatten im Gesundheitssystem an über sinnvolle, nutzlose oder schädliche Maßnahmen. 

Gibt es auch Leitlinien, die für Patienten aufbereitet sind? Button: Infokorb-Ablage In den Infokorb legen

Für Patienten gibt es teilweise eigens erarbeitete Patientenleitlinien – in einigen Fällen zusätzlich zu den ärztlichen Leitlinien. Darin sind die Empfehlungen allgemein verständlich übersetzt. Vorbildlich sind dabei die Patientenleitlinien im Nationalen Programm für Versorgungsleitlinien und im Leitlinienprogramm Onkologie. Nationale Versorgungsleitlinien gibt es für sehr verbreitete Krankheiten wie Asthma, COPD, koronare Herzkrankheit (KHK), Herzinsuffizienz, Kreuzschmerz, Depression, Diabetes und Bluthochdruck.
 

Patienten können mit Hilfe einer guten Leitlinie ihre Wahlfreiheit im Gesundheitssystem besser ausüben: Waren sie zuvor auf die persönliche Meinung des Arztes angewiesen, finden sie in einer Leitlinie den Stand des internationalen Wissens und können mit dem Arzt eine Entscheidung auf Augenhöhe treffen. 

Quellen Aktualität der Informationen