Interview mit Prof. Dr. Ferdinand Gerlach über die "Sprechende Medizin"

Berlin, 23.01.2020 - Wer einen Arzt oder eine Ärztin aufsucht, möchte gehört und ernst genommen werden. Doch das klappt nicht immer. Zeitnot und ökonomische Zwänge in den Praxen führen manchmal dazu, dass die Arzt-Patienten-Beziehung leidet. Was passieren muss, damit ein gutes Verhältnis und partnerschaftliche Entscheidungen auf Augenhöhe möglich sind, erläutert Prof. Dr. Ferdinand Gerlach, Vorsitzender des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, im Interview.

Ein durchschnittliches Arzt-Patienten-Gespräch dauert hierzulande kaum acht Minuten. Verdient die ärztliche »Sprech«-Stunde überhaupt ihren Namen?

Das schon, allerdings je nach Fachdisziplin in unterschiedlichem Ausmaß. In Allgemeinarztpraxen spielt Zeitmangel eine große Rolle, und viele Ärzte wünschen sich mehr Zeit für Patientengespräche, als sie tatsächlich haben.

Wer ist denn der »Zeitdieb«?

Dazu tragen verschiedene Faktoren bei – angefangen bei unserem Honorarsystem, das Kranksein und »Machen« mehr honoriert als Gesundbleiben und kontrolliertes Nichtstun, bis hin zu einer unglücklichen Mischung aus Über-, Unter- und Fehlversorgung. Dieses Hamsterrad – in dem sich Ärzte wie Patienten befinden – muss dringend angehalten werden. Stattdessen sollte Kommunikation insgesamt mehr Raum bekommen.

Was versprechen Sie sich konkret davon?

Nur wenn Raum dafür vorhanden ist, gut zu informieren und auch gut zuzuhören, können Arzt und Patient kooperieren und gemeinsam die richtigen Entscheidungen treffen. Das führt dann auch zu besseren Behandlungsergebnissen. Neben dem Faktor Zeit ist das natürlich auch mit einem entsprechenden Kulturwandel in der Arzt-Patienten-Beziehung verbunden: hin zu einer auf Dialog ausgelegten, beiderseitig gelebten »sprechenden Medizin«.

So ein Kulturwandel dürfte nicht ganz einfach sein. Wie kann er dennoch gelingen?

Die Frequenz der Arzt-Patienten-Kontakte ist in Deutschland zu hoch. Das hat etwas mit unserem Quartalsabrechnungssystem zu tun, das den Anreiz dafür gibt, alle Patienten jedes Quartal ein- bis zweimal in die Praxis zu holen. Die quartalsweise Budgetierung raubt Kapazitäten und sollte durch einen sinnvolleren Abrechnungsmodus ersetzt werden. Darüber hinaus werden Mediziner auf ihrem Weg in den Arztberuf noch nicht hinreichend auf eine gute Kommunikation vorbereitet. Hier muss sich etwas ändern. Aber auch aufseiten der Patienten: Sie sollten sich im Idealfall als aktive Mitbehandler verstehen, nicht als passive Teilnehmer. Das kann ganz praktisch heißen, dass man seinen Arztbesuch vorbereitet, sich notiert, welche Medikamente man zurzeit einnimmt, sich Fragen aufschreibt – und die dann natürlich auch stellt.

Gefordert sind also mündige Patienten. Ist das zurzeit nicht eher Wunschdenken als Realität?

Es stimmt, dass es um die Gesundheitskompetenz der Deutschen nicht so gut bestellt ist. Es ist aber auch schwierig, an fundierte und unabhängige Informationen zu kommen. Wer googelt, findet viel Halbwissen und Scheininformationen, auch solche, die zum Beispiel von bestimmten Interessengruppen lanciert werden. Da ist eine Lücke, die die Stiftung Gesundheitswissen füllt.

Wie genau hilft die Stiftung der »sprechenden Medizin«?

Sie stellt zum einen unabhängiges und fundiertes Wissen bereit, aber kümmert sich zum anderen auch darum, dies auf eine ansprechende, frische Weise zu tun. Es ist keineswegs so, dass damit das Arzt-Patienten-Gespräch ersetzt werden soll. Im Gegenteil. Besser informiert zu sein, bedeutet vor allem: bessere Vorbereitung aufs Gespräch. Der Patient kann gezielter Fragen stellen, Ängste ansprechen und dadurch klarere Antworten bekommen. Die ärztliche Perspektive und Einordnung wird erleichtert und zugleich aufgewertet, sie ergibt für den Patienten mehr Sinn. All das führt zu einer deutlich erhöhten Entscheidungskompetenz. Ich wünsche mir deshalb, dass das Stiftungsangebot in Zukunft von einer maximalen Anzahl von Nutzern als anerkannte Hilfe für Entscheidungen in Anspruch genommen wird. Wir wollen also gleichsam Herz und Hirn der Menschen erreichen.