Interview mit Prof. Dr. Gerd Antes über evidenzbasierte Medizin

Berlin, 30.11.2020 - Bei einer medizinischen Entscheidung spielen im Idealfall Studienergebnisse, die Erfahrungen des Arztes und die Wünsche des Patienten zusammen. Dann spricht man von evidenzbasierter Medizin. Wie Patienten davon profitieren, erklärt Prof. Dr. Gerd Antes im Interview.

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Evidenzbasierte Medizin (EbM) bezeichnet die systematische Einbeziehung von Ergebnissen klinischer Studien in medizinische Entscheidungen. Dazu kommen die Erfahrung des Arztes sowie die Werte der Patienten. Ein zentrales Anliegen der EbM war immer die Entscheidungsunterstützung für die Ärzte und für das Arzt-Patienten-Gespräch. Sie kann aber weit über den einzelnen Patienten hinaus Nutzen vergrößern und Schaden verringern. Ein aktuelles, äußerst relevantes Thema sind Hygienemaßnahmen in Kliniken, um lebensgefährliche nosokomiale Infektionen durch Krankenhauskeime zu reduzieren.

Wenn ein Patient Sie fragen würde: »Was hat EbM mit mir zu tun?«, was würden Sie ihm antworten?

Sehr viel! EbM schafft mehr Rationalität bei Therapieentscheidungen und bei der Bewertung diagnostischer Befunde. Sie hilft damit, überflüssige oder falsche Maßnahmen zu vermeiden und die erfolgversprechenden Verfahren treffsicherer auszuwählen – oder auch einfach nur zu beobachten, ob nicht die Selbstheilungskräfte ausreichen, zum Beispiel bei Erkältungen oder anderen Infekten.

Und gesamtgesellschaftlich betrachtet?

Die Diskussion um die evidenzbasierte Medizin hat in den letzten zwei Jahrzehnten die Aufmerksamkeit auf Abhängigkeiten und ganz generell auf Interessenkonflikte sehr gestärkt. Wenn die global vorhandenen Studien zeigen, dass das Wissen daraus mit dem eigenen ärztlichen Handeln in Widerspruch steht, ist es grundsätzlich nicht einfach, diese Situation aufzulösen. Kommen dann noch materielle Abhängigkeiten hinzu, wird es noch schwieriger. Die Methodik der EbM macht diese Konflikte sichtbar.

Trotzdem wirkt der evidenzbasierte Ansatz manchmal sehr theoretisch.

Das liegt daran, dass der Blick zunächst immer automatisch auf Studien fällt, den Zugang zu ihnen und damit auf Publikationen und Informationsquellen. Damit wirkt EbM natürlich leicht wie ein theoretischer Überbau neben der medizinischen Praxis. Tatsächlich aber gehören ganz konkret die Ausbildung, zum Beispiel für kompetente Arzt-Patienten-Gespräche, genauso dazu wie laienverständliche Informationen für Patienten und Angehörige. Er bezieht also alle Beteiligten ein.

Wie wird es in Zukunft weitergehen?  Button: Infokorb-Ablage In den Infokorb legen

Ich hoffe, dass das Niveau für das Erreichen des Ziels »evidenzbasiert« weiter zunimmt. Notwendig dafür ist ein übergeordnetes Interesse am Ganzen, um die medizinische Versorgung insgesamt zu verbessern. Dieses Anliegen wird zu oft von Partikularinteressen überlagert und vernebelt. 

Welche Rolle kann die Stiftung Gesundheitswissen dabei einnehmen?

Das Motto »Wissen ist gesund« ist gut, aber auch eine große Herausforderung. Es geht ja darum, das Gesundheitswissen in Deutschland zu stärken. Dabei ist von essenzieller Bedeutung, dass die Stiftung ihre Rolle im Gesamtsystem findet, in partnerschaftlichem Schulterschluss mit ähnlichen Einrichtungen. Das ist für mich der einzige Weg, diese Aufgabe angesichts der verfügbaren Ressourcen zu stemmen. Die vom Bundesministerium für Gesundheit initiierte Allianz für Gesundheitskompetenz, in der auch die Stiftung ein Beitrag ist, könnte helfen, dafür den geeigneten Rahmen zu schaffen.