Berlin, aktualisiert am 5. September 2022 – Ein kleiner Schnitt in den Finger mit dem Küchenmesser – und wir hören sofort auf zu schneiden. In Sekundenbruchteilen merken wir: Das tut weh. Aber wie bewerkstelligt der Körper eigentlich diesen Sofortalarm? Warum werden Schmerzen manchmal chronisch? Und welche Rolle spielt das Schmerzgedächtnis dabei?
Schmerzen sind ein Alarmsignal: Der Körper registriert ein Ereignis, das das ihm Schaden zufügt oder schon zugefügt hat. Wie stark man Schmerzen wahrnimmt, unterscheidet sich von Mensch zu Mensch und hängt auch von der seelischen Verfassung ab. Manche Menschen spüren sogar schon Schmerzen, wenn sie schmerzbezogene Wörter lesen oder hören. Andere hingegen nehmen kleine Wunden kaum wahr.
Es gibt Situationen, in denen unser Körper Schmerzen stark hemmen kann: Er produziert dann verstärkt bestimmte Stoffe, sogenannte Endorphine. Sie lindern die Schmerzen, sodass wie sie nur schwach oder kurzfristig gar nicht wahrnehmen. Eine solche Situation kann zum Beispiel ein schwerer Unfall sein. Diese Körperfunktion hat sich im Laufe der Evolution entwickelt, damit der Mensch auch in extremen Situationen handlungsfähig bleibt – also sich zum Beispiel auch schwerverletzt noch aus der Gefahrenzone retten kann.
Die Schmerzempfindung ermöglichen die sogenannten Nozizeptoren – besondere Sinneszellen, die schmerzauslösende Reize erkennen. Ein solcher Reiz kann zum Beispiel von außen kommen wie Hitze oder Druck, er kann aber auch im Körper entstehen, beispielsweise bei einer Entzündung. Die Schmerzreize werden über die Nerven zunächst zum Rückenmark und dann ins Gehirn geleitet. Hier entsteht das unangenehme Schmerz-Gefühl. In diesem Fall handelt der Körper blitzschnell: Wir ziehen die Finger vom heißen Topfdeckel weg oder das Bein knickt plötzlich ein, wenn wir auf etwas Spitzes treten. Diese Reflexe sollen den schmerzverursachenden Reiz beenden und unseren Körper vor Schädigung schützen.
Je nachdem wie ein Schmerz entsteht und sich äußert, lassen sich verschiedene Schmerzformen unterscheiden. Manche Patienten leiden auch gleichzeitig unter mehreren Schmerzformen.
Schmerzen sind von Anfang an Teil unseres Lebens. Manchmal aber verselbstständigt sich der Schmerz. Er kehrt dann immer wieder, schon beim kleinsten Schmerzreiz – und ist in manchen Fällen sogar immer noch da, wenn die körperliche Ursache bereits beseitigt ist. Schmerzen prägen sich auf verschiedene Weise ein. Dies bezeichnet man auch als Schmerzgedächtnis.
Das Schmerzen beeinflussen die Nervenzellen, die an der Weiterleitung und Verarbeitung von Schmerzen beteiligt sind. Wiederholte Schmerz-Erfahrungen können dafür sorgen, dass die Nervenzellen empfindlicher für die Schmerzen werden und stärker darauf reagieren. Dadurch nehmen wir Schmerzen schneller wahr, sogar schon bei kleinen Schmerzreizen.
Das Schmerzgedächtnis kann uns helfen, schmerzhafte Situationen vorzeitig zu erkennen und zu vermeiden. Wenn wir zum Beispiel auf eine heiße Herdplatte fassen, dann lernen wir durch den Schmerz, dass wir in Zukunft vorsichtiger sein müssen. So beeinflussen Schmerzerfahrungen aus der Kindheit auch noch das Verhalten im Erwachsenenalter.
Schmerzhafte Situationen prägen sich manchmal so stark ein, dass man sie auch nach Jahren ohne den Schmerzreiz über gleichzeitig abgespeicherte Wahrnehmungen wie Gerüche oder Geräusche wiedererleben kann. Mitunter aktivieren schmerzhafte Situationen auch früheres Schmerzerleben neu. Leider lässt sich das Schmerzgedächtnis nicht einfach wieder löschen. Es ist jedoch mit einer gezielten Behandlung möglich, das Schmerzgedächtnis umzuprogrammieren.
Noch bis in das 20. Jahrhundert hinein dachte man, dass Schmerzen auf einen klar benennbaren Auslöser zurückzuführen sind – zum Beispiel eine Verletzung oder eine krankhafte Veränderung im Körper. Mit diesem einfachen Modell lässt sich jedoch nicht erklären, warum viele Menschen an Schmerzen leiden, für die keine körperliche Ursache gefunden werden kann.
Heute weiß man, dass neben den körperlichen Einflüssen auch psychische und soziale Aspekte eine Rolle spielen.
Beispielsweise können Stress bei der Arbeit und hohe Anforderungen in der Familie den Verlauf von Rückenschmerzen beeinflussen. Wer in solch einer Lebenssituation zum Beispiel beim Tragen von Einkäufen plötzlich Rückenschmerzen bekommt, kann zunächst einen bekannten Auslöser wie eine „falsche“ Bewegung dafür finden. Die Ursache der Schmerzen liegt möglicherweise aber bei der vorher unbemerkten andauernden Muskelanspannung und Erschöpfung. Für die Behandlung von Schmerzen ist es wichtig, gleichermaßen körperliche wie seelische Ursachen zu kennen. Wenn nur auf körperlicher Ebene nach den Ursachen gesucht wird, wird ein wichtiger Teil der Ursachen nicht mitbehandelt.
Die Entstehung chronischer Schmerzen
Manche Schmerzpatientinnen und -patienten schonen sich aus Angst, die Schmerzen zu verstärken. Körperliche Schonung ist aber nur sinnvoll, um zum Beispiel eine Verletzung auszuheilen. Bei chronischen Schmerzen kann eine langfristige Schonung jedoch dafür sorgen, dass die Muskelkraft und Beweglichkeit nachlassen. Es kann zu Fehlhaltungen kommen, die wiederum zu Schmerzen führen.
Außerdem kann es vorkommen, dass Menschen mit Schmerzen nach und nach eine immer größere Angst vor den Schmerzen entwickeln – und Körper und Seele zusätzlich unter Stress geraten. Wer schon die nächste Schmerzwelle erwartet, richtet leicht die komplette Wahrnehmung auf den Schmerz aus. Dadurch tritt das Schmerzempfinden schneller ein, die sogenannte Schmerzschwelle sinkt. Schon geringste Reize können als Schmerzen wahrgenommen werden. Der Schmerz hat sich nun sozusagen verselbstständigt, er ist chronisch geworden.
Wer über eine längere Zeit unter Schmerzen leidet, hat oft mit negativen Veränderungen seines Privat- und Arbeitslebens zu kämpfen. Dies hat wiederum Einfluss darauf, wie man sich sieht und einschätzt: Gefühle von Hilf- und Hoffnungslosigkeit gegenüber dem Schmerz spielen dabei ebenso eine Rolle wie Sorgen (z. B. um die finanzielle Absicherung) und Ängste (z. B. vor Partnerschaftskonflikten).
Es kann zu einem Schmerzkreislauf kommen: In einem solchen Fall erhalten die seelischen Einflüsse die chronischen Schmerzen aufrecht und verstärken sie weiter. Solche seelischen Einflüsse sind zum Beispiel das Gefühl, die Kontrolle über den Schmerz zu verlieren, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung sowie eine mögliche Depression.
Chronische Schmerzen sind schwierig zu behandeln und nicht immer verschwinden sie wieder ganz. Ziel ist es deshalb auch, die Schmerzen erträglicher zu machen und einen guten Umgang damit zu erlernen.
Die Behandlung setzt bei der jeweils individuellen Krankheitsgeschichte, dem Umfeld, den Ängsten und Sorgen der Patientin, des Patienten an. Zusätzlich zur körperlichen Untersuchung erfragt der Arzt, die Ärztin deshalb auch psychosoziale Informationen, also zum Beispiel über die Situation am Arbeitsplatz und in der Familie sowie über aktuelle Konflikte und Belastungen.
Durch die Behandlung chronischer Schmerzen sollen die Patientinnen und Patienten vor allem ihren Alltag besser bewältigen können. Dafür ist es zum Beispiel wichtig, regelmäßig körperlich aktiv zu sein und einen guten Ausgleich zwischen Be- und Entlastung zu finden. Es ist außerdem wichtig, schmerzverstärkende Verhaltensweisen zu erkennen und gesundheitsfördernde Verhaltensweisen zu lernen. Die Behandlung von chronischen Schmerzen erfolgt daher zum Beispiel mithilfe von spezialisierten Schmerzmedizinern, Psychotherapeuten, Physiotherapeuten und Fachleuten anderer medizinischer Gebiete.
Wenn einzelne Maßnahmen jedoch nicht wirken, kommen sogenannte „Multimodale Behandlungsprogramme“ infrage. Bei diesem Therapieansatz greifen die verschiedenen Fachgebiete und Therapieformen ineinander. Wichtige Bestandteile eines solchen Programms sind Schmerzbehandlung, körperliche Aktivität und psychotherapeutische Verfahren. In der Therapie lernen Patienten und Patientinnen unter anderem Schmerzauslöser besser zu kontrollieren, die Schmerzen anders zu verarbeiten und sich ohne Angst vor Schmerzen zu bewegen.