Die westliche Medizin ist fortgeschrittener als je zuvor. Nie gab es so viele Behandlungsmöglichkeiten und präzise Diagnoseverfahren. Und dennoch: Bei vielen Menschen wächst die Sehnsucht nach Alternativen. Die dritte gemeinsame Veranstaltung der ZEIT und der Stiftung Gesundheitswissen am 12. April in Berlin ging dieser Frage nach und beleuchtete unter dem Titel „Glauben oder Wissen?“ die Patientenbedürfnisse zwischen Schul- und Alternativmedizin.
Zur „ZEIT Doctor Sprechstunde“ mit dem Titel „Glauben oder Wissen? Patientenbedürfnisse zwischen Schul- und Alternativmedizin“ kamen in die Berliner Kaiserin-Friedrich-Stiftung über 250 Gäste. Es war die dritte Veranstaltung im Rahmen einer Veranstaltungsreihe der Stiftung Gesundheitswissen (SGW) in Kooperation mit der Zeitung „Die Zeit“.
Auf dem fachübergreifend besetzten Podium suchten Prof. Dr. Gerd Antes, Co-Direktor des Cochrane Deutschland und Mitglied im Expertenbeirat der Stiftung Gesundheitswissen, Prof. Dr. Winfried Rief, Leiter der Arbeitsgruppe Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Marburg, Prof. Dr. Eckhard Nagel, Direktor des Instituts für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaft der Universität Bayreuth und Prof. Dr. Gustav Dobos, Leiter der Klinik für Naturheilkunde und integrative Medizin in Essen, u.a. nach Antworten auf die Frage, was Menschen dazu bewegt, persönlichen Glauben über die Evidenz aus wissenschaftlichen Studien zu stellen.
Vor der eigentlichen Podiumsdiskussion ging Prof. Dr. Eckhard Nagel in einem Kurzinterview der Frage nach, wie sich das Menschenbild in der Medizin im Laufe der Jahrhunderte verändert hat. Heute werten „wir die Funktionalität der Materie in der Medizin viel höher, als das, was wir vielleicht als seelisch-körperliche Einheit im christlichen Menschenbild mitgetragen haben.“ Diese Reduzierung des Menschenbildes in der modernen Medizin könne ein Grund für die Sehnsucht vieler Menschen nach Ganzheitlichkeit in der Behandlung sein.
„Es ist gut, in einer Zeit zu leben, in der man auf weitreichende wissenschaftliche Erkenntnisse in der Medizin zurückgreifen kann. Der Computertomograph allein kann die Bedürfnisse der Patienten aber nicht erfüllen“, so Nagel. Zuwendung sei auch heute noch „ein existentielles Momentun der Medizin“. Häufig finden Patienten dies in der Schulmedizin aber nicht, und suchen nach alternativen Angeboten, „weil unsere naturwissenschaftliche Medizin stringent in einer naturwissenschaftlichen Sicht denkt, ausbildet und handelt.“
Fehlendes Wissen, falsche Informationen und dadurch falsch aufgebaute Erwartungen seien weitere Gründe für die Patienten, sich von der Schulmedizin abzuwenden. „Wenn ich etwas nicht weiß, dann kommt der Glaube ins Spiel“, sagt der Mathematiker, Prof. Dr. Gerd Antes. Als Mann der Zahlen und Vertreter einer evidenzbasierten Medizin legt er Patienten nahe, sich stattdessen am handfesten Beweis zu orientieren. „Der einzig logische Weg ist es, auf 1.000 Menschen zu schauen, die ungefähr so geprägt sind wie ich, und daraus abzuleiten, was für mich am besten wäre“, sagte Antes. Aus seiner Sicht sind Durchschnitts- oder Mittelwerte sehr mächtig. „Wenn ich nicht mehr weiß, dann ist ein Durchschnittswert für mich die beste Empfehlung.“
Glaube, ergänzte Prof. Nagel, sei jedoch auch verbunden mit einem 2. Aspekt ‒ mit Angst, die oft in irrationalen Entscheidungen münde. Irrationalität gehöre zum Kranksein dazu und erwachse aus Angst. Betroffene interessierten sich dann nicht mehr für den Mittelwert und dafür, ob die statistische Beweislage hinreichend sei, „sondern nur noch dafür, ob es eine nachvollziehbare Behandlungsmöglichkeit gibt.“
Dass Glaube in körperlicher Hinsicht etwas bewirken kann, dafür argumentierte Prof. Winfried Rief: Der Marburger Klinikpsychologe erforscht den „Placebo-Effekt“. Laut Rief können Erwartungen und der Glaube an die Wirksamkeit einer Behandlung tatsächlich zu Aktivierungen bestimmter Zentren im Gehirn und letztlich zu biologischen Prozessen führen, die die Heilung fördern oder die Schmerzwahrnehmung herabsetzen. Auch die Zuwendung des Arztes vor der Behandlung, die Behandlung selbst und die Art, wie die Wirkung eines Medikamentes kommuniziert werde, könnten derartige Effekte auslösen. Die Medizin sei erst am Anfang, diese Prozesse zu verstehen.
„Wir müssen uns von der Vorstellung lösen, da ist die technisierte Schulmedizin, die alles richtig macht, und auf der anderen Seite ist die Alternativmedizin, die nur weiche Grundlagen hat und eigentlich auch immer alles falsch macht“, sagte Antes. Auch in der Schulmedizin werde viel falsch gemacht. „Eine Sache, die wir betreiben, ist es, genau diese Fehler offenzulegen und zu verbessern“, so der Methodiker.
Neben vielen nicht überprüften oder nachweislich unwirksamen Alternativmedizinverfahren, gibt es umgekehrt auch solche, deren Wirksamkeit mit teils hoher Evidenz nachgewiesen werden konnte, bestätigte Prof. Dr. Gustav Dobos. Als Beispiele könnten Yoga bei Asthma und Rückenschmerz, Akupunktur für Rücken- und Kopfschmerz oder Migräne und Johanniskraut bei schweren Depressionen stehen. Allerdings sind derartige Heilmethoden keinesfalls nur „sanft“ oder in jeder Situation und Dosierung ungefährlich. Auch sie haben Nebenwirkungen. Insbesondere Wechselwirkungen mit schulmedizinischen Medikamenten müssen beachtet werden, wie das Beispiel Johanniskraut zeigen würde. Dobos steht für eine „wissenschaftlich fundierte Naturheilkunde“ als „ein Bollwerk gegenüber der Flut an unseriösen und teils gefährlichen Alternativmethoden, die auf dem Markt kursieren.“
Nicht nur die Fülle von Behandlungsoptionen und Angeboten, die der medizinische Fortschritt mit sich gebracht hat, sondern auch kommerzielle Interessen auf beiden Seiten, in der Schul- und Alternativmedizin, sorgen ‒ neben der Aufforderung zur Mitbestimmung an der eigenen Gesundheitsentscheidung ‒ für ein gesteigertes Orientierungsbedürfnis bei den Patienten. Dies ging aus Diskussionsbeiträgen aus dem Publikum bei der ZEIT Doctor Veranstaltungsreihe hervor. Informieren sich Patienten im Internet, ist es nicht immer leicht, zu erkennen, ob es sich um ein neutrales oder beispielsweise von der Pharmaindustrie gesponsertes Informationsangebot handelt. Im Bereich der Alternativmedizin spekulieren diverse Anbieter mit der Angst der Patienten und überbieten sich in Scharlatanerie. Selbst Todesfälle werden in Kauf genommen. Mehr denn je besteht der Wunsch nach Aufklärung, Orientierungshilfen und Begleitung. Um die Menschen zu kompetenten Mitentscheidern im Krankheitsfall und Nutzern von Informationsangeboten zu machen, müsse die Vermittlung von Gesundheitskompetenz bereits in der Schule beginnen, so ein Fazit des Abends. Man müsse zudem den Menschen mehr berücksichtigen, „auch in dem Punkt, wie wir Krankheiten und Therapien kommunizieren“, schloss Prof. Dr. Winfried Rief.