Berlin, 12. August 2020 – Vorbeugung leidet an einer chronischen Beschwerde: Aus Motivation und besserem Wissen folgt nicht unbedingt Aktion. Viel zu oft verpuffen Kampagnen und die eigenen guten Vorsätze. Was getan werden kann, damit Prävention besser im Leben ankommt.
Viele dürften jetzt noch daran zu knabbern haben: erst die Weihnachts- und dann die Osterzeit, ein steter Strom opulenter Mahlzeiten. Während der Feiertage wird in Deutschland vor allem gegessen. Häufig kommen noch der ebenfalls energiereiche Alkohol und weniger Bewegung als üblich dazu. Kein Wunder, dass erwachsene Deutsche beispielsweise in der Weihnachts- und Neujahrsferienzeit durchschnittlich 800 Gramm im Vergleich zu ihrem niedrigsten Jahresgewicht zulegen, wie die Untersuchung »Gewichtszuwachs über die Ferien in drei Ländern« von Elina Helander der Universität Tampere zeigt.
Der Jahreswechsel ist aber auch die Zeit, in der viele Menschen gute Vorsätze fassen – oft allerdings mit einer kurzen Halbwertszeit. »Bei den meisten Silvestervorsätzen bleibt es bei der Absicht«, erklärt Prof. Dr. Annegret Flothow, Expertin für Gesundheitspsychologie und Gesundheitsförderung mit dem Schwerpunkt Ernährung an der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW). »Vorsätze zu Weihnachten werden oft spontan gefasst und sind nicht nachhaltig vorbereitet«, ergänzt Prof. Dr. Elisabeth Pott, unparteiisches Mitglied des Gemeinsamen Bundesausschusses. Denn damit Menschen ihr Verhalten ändern – sich gesundheitsbewusster verhalten –, müssen mehrere Faktoren zusammenkommen. »Eine wichtige Rolle spielt meine Risikowahrnehmung: Weiß ich überhaupt, dass Übergewicht ein Risikofaktor für Erkrankungen, wie Typ2-Diabetes ist? Dann: Erwarte ich von einer Verhaltensänderung eine Besserung meines Zustandes? Und schließlich: Traue ich mir selbst zu, mein Verhalten zu ändern?«, erklärt die Gesundheitspsychologin, die sich systematisch mit dem steinigen Weg von der Motivation bis zur Aktion befasst. Alle drei Elemente – Risikowahrnehmung, Handlungsergebniserwartung und Selbstwirksamkeit – müssen zusammenfließen, bevor die Menschen gute Vorsätze in die Tat umsetzen.
Aber warum scheitern so viele Menschen daran, sich beispielsweise gesünder zu ernähren? »Wir sind einer unüberschaubaren Vielfalt von Verlockungen in unserem Alltag ausgesetzt«, sagt Flothow. Patentrezepte, der Verführung zu widerstehen, gibt es nicht, betont sie: »Die jeweiligen Gesundheitsziele müssen zu mir und zu meinem Alltag passen.« Bewährt hätten sich »S.M.A.R.T.E.« Vorsätze. Diese Abkürzung steht für »spezifisch, messbar, aktionsorientiert, realistisch, terminiert und eigenständig erreichbar«. Aus der pauschalen Anforderung »Ich werde mich gesund ernähren!« wird so »Ich werde bis März nur noch zweimal die Woche Fleisch essen!«. »Das klappt einfach besser«, so Flothow.
Vom abstrakten Gesundheitsbewusstsein bis zum gesunden Lebensstil ist ein langer Weg. Wie können Staat und Zivilgesellschaft die Menschen dabei unterstützen? Die bisherigen Bemühungen, gesundheitsbewusstes Verhalten in der Bevölkerung zu fördern, waren nur bedingt erfolgreich. Sieben von zehn Männern und fünf von zehn Frauen sind übergewichtig. Chronische und degenerative Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Krebs verursachen hierzulande mittlerweile die größte Krankheitslast, wie das Robert Koch-Institut als Herausgeber in dem Gesundheitsbericht des Bundes zeigt. Die Hoffnungen, sie durch Vorbeugung vor dem Krankheitsausbruch zurückzudrängen (Primärprävention), haben sich bisher nicht erfüllt.
Uns fehlt es nicht an Wissen, es hapert an der Umsetzung.
Prof. Dr. Elisabeth Pott, Mitglied des Stiftungsrates der Stiftung Gesundheitswissen und unparteiisches Mitglied des G-BA
Die langjährige Direktorin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Prof. Dr. Elisabeth Pott, ist seit vergangenem Jahr unparteiisches Mitglied des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) und engagiert sich ehrenamtlich im Stiftungsrat der Stiftung Gesundheitswissen. »In der Praxis ist die gesundheitliche Vorbeugung noch zu wenig systematisch und nicht auf die Bedürfnisse der diversen Zielgruppen abgestimmt. Kampagnen helfen nur, wenn man die Zielgruppen richtig anspricht und erreicht«, erläutert sie. So unterschieden sich Kenntnisstand und Aufnahmebereitschaft der Menschen je nach Alter und Situation. Pott erklärt das am Beispiel des Rauchens: »Die Jugendlichen, die noch nicht rauchen, müssen wir stabilisieren und den Zeitpunkt bis zur ersten Zigarette möglichst lange hinauszögern. So konnte der Anteil rauchender Jugendlicher in den vergangenen 10 bis 15 Jahren durch gezielte Maßnahmen um zwei Drittel verringert werden. Ein langjähriger Raucher muss dagegen ganz anders angesprochen werden; er braucht zum Beispiel eher Informationen, wie er mit seinem Entzug umgehen kann.«
Das Schlagwort lautet Health Literacy, auf Deutsch etwa »Gesundheitskompetenz« – Kenntnisse und Fertigkeiten, um eigene informierte Entscheidungen zu treffen. Gesundheitswissenschaftler unterscheiden zwischen Verhaltens- und Verhältnisprävention. Während Erstere vor allem über individuelle Aufklärung gesundes Verhalten fördern will, setzt Letztere bei den Lebensbedingungen an. Verhaltensprävention wären zum Beispiel Informationskampagnen über die Schädlichkeit des Rauchens; Verhältnisprävention wären höhere Tabakpreise. »Heute ist anerkannter Stand der Wissenschaft, dass gerade die Verbindung aus Verhaltens- und Verhältnisprävention die größten Erfolge erzielt«, erläutert Pott.
Ansätze, die auf individuelle Verhaltensänderung abzielen, funktionieren aber deutlich besser bei denen, die sie weniger nötig haben.
Viele Studien zeigen, dass Angebote der gesundheitlichen Prävention vor allem von Menschen genutzt werden, die sowieso über eine hohe Gesundheitskompetenz verfügen.
Prof. Dr. Annegret Flothow, Expertin für Gesundheitspsychologie und Gesundheitsförderung mit dem Schwerpunkt Ernährung an der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW)
»Menschen mit niedrigem Sozialstatus, die über eine schlechtere Gesundheit verfügen, werden durch Präventionsmöglichkeiten wie Beratungs-, Bildungsangebote oder auch Sportkurse weniger gut erreicht«, so Flothow weiter. »Das ist insbesondere dann der Fall, wenn diese nicht so aufbereitet sind, dass sie die ärmeren und weniger gebildeten Menschen ansprechen«, ergänzt Pott. Und nicht nur das: In den ärmeren und weniger gebildeten Bevölkerungsschichten fehlt es oft an den Ressourcen, um die Ratschläge umzusetzen. Dies zeigt sich drastisch im sogenannten sozialen Gradienten: im Unterschied in den Gesundheitschancen je nach sozialem Status. Der Unterschied bei der Lebenserwartung zwischen der höchsten und der niedrigsten Einkommensgruppe in Deutschland beträgt bei Männern knapp neun Jahre, bei Frauen viereinhalb Jahre, wie das Robert Koch-Institut gemeinsam mit Destatis im März 2019 im Journal of Health Monitoring, der Gesundheitsberichterstattung des Bundes, zeigte. Dazu tragen neben riskanterem Gesundheitsverhalten aber auch Faktoren wie gesundheitsschädlichere Wohn- und Arbeitsbedingungen bei.
Die Gesundheitspsychologin Flothow verweist auf die Bedeutung von Mitwirkung, damit Vorbeugung gelingen kann. Mit Angeboten in den Lebenswelten, zum Beispiel am Arbeitsplatz oder in einer Bildungseinrichtung, werden die Menschen in Entscheidungsprozesse einbezogen. Konkret kann das beispielsweise ein »Gesundheitszirkel« in einem Unternehmen sein, in dem Mitarbeiter und Management gemeinsam überlegen, wie die Arbeitsbedingungen gesundheitsverträglicher gestaltet werden können. Flothow dazu: »Betroffene zu Beteiligten machen ist auf jeden Fall ein gutes Prinzip.« Gesundheitliche Prävention verspricht Erfolg, wenn sie bei den Verhältnissen ansetzt und es so den Menschen leichter macht, sich gesund zu verhalten. Sie nimmt den ganzen Menschen in den Blick – von der Ernährung bis zum Schlaf, von der Sexualität bis zu den familiären und beruflichen Belastungen – statt mit erhobenem Zeigefinger einzelne mehr oder weniger schädliche Einflüsse herauszugreifen und zu dämonisieren. Wie zum Beispiel das etwas dickere Fettpolster, das über die Feiertage anfällt.