Im Behandlungszimmer wird viel gemessen, was unserer Gesundheit dienen soll, zum Beispiel der Blutdruck oder der Blutzucker. Sind die Werte zu hoch oder niedrig, kann dies ein Hinweis auf eine Erkrankung sein. Doch ab wann gilt man als krank? Wie werden solche Grenzwerte überhaupt festgelegt? Und welche Rolle spielen sie bei der Behandlung?
Manche Erkrankungen machen sich mit eindeutigen Symptomen bemerkbar – etwa eine Erkältung mit Husten und Schnupfen. Wir fühlen uns krank. Andere spüren wir meist nicht sofort, Bluthochdruck oder Diabetes beispielsweise. Darum erfasst die Ärztin oder der Arzt regelmäßig Messwerte, anhand derer man feststellen kann, ob eine Erkrankung vorliegt oder nicht. Die gemessenen Werte werden mit dem sogenannten Grenzwert verglichen. Wird ein Grenzwert über- oder unterschritten, kann dies ein Hinweis auf eine Erkrankung sein. Grenzwerte dienen also der Diagnostik.
Wenn ein Messwert einmal über oder unter einem Grenzwert liegt, spricht das nicht zwangsläufig für eine Erkrankung. Denn Messwerte können schwanken – auch bei gesunden Personen. Eine wichtige Rolle für die Aussagekraft von Messwerten spielt beispielsweise der Zeitpunkt der Messung: Nach körperlicher Anstrengung oder bei Aufregung ist der Blutdruck in der Regel erhöht. Auch die Blutwerte ändern sich: So kann z. B. der Blutzuckerwert nach einer Mahlzeit ansteigen.
Bei Blutzuckerwerten ist zu beachten, ob es sich um einen sogenannten „nüchternen“ Wert handelt. Dies ist der Fall, wenn der Patient, die Patientin eine gewisse Zeit vor der Messung nichts gegessen hat. Für „nüchterne“ und „nichtnüchterne“ Blutzuckerwerte gelten unterschiedliche Grenzwerte.
Neben den Schwankungen können auch Probleme bei der Messung die Werte verfälschen, z. B. wenn die Blutdruckmanschette falsch angelegt wird oder Fehler im Labor passieren.
Bei vielen Messwerten ist es also wichtig, dass sie zumindest zweimal an unterschiedlichen Tagen ermittelt werden, weil das Ergebnis ansonsten verfälscht sein kann. Dann besteht die Gefahr, dass eine Erkrankung übersehen oder fälschlicherweise festgestellt wird.
Grenzwerte dienen der Diagnostik. Anders verhält es sich mit den sogenannten Zielwerten. Sie bezeichnen die Messwerte, die mit einer Behandlung erreicht werden sollen. Sie sind wichtig bei der Planung und Überwachung der Behandlung. Während der Behandlung kontrolliert der Arzt oder die Ärztin in regelmäßigen Abständen, ob der angestrebte Zielwert erreicht worden ist oder nicht. So lässt sich feststellen, ob der eingeschlagene Behandlungsweg erfolgreich war.
In vielen Fällen ist der Zielwert der Behandlung gleich dem Grenzwert, aber manchmal kann es auch Unterschiede geben, wie das Beispiel Diabetes zeigt.
Für eine Diagnose von Diabetes mellitus gelten folgende Grenzwerte: Ein Nüchtern-Blutzuckerwert von kleiner oder gleich 100 Milligramm pro Deziliter (mg/dl) gilt als normal und Werte, die darüber liegen, sind ein Hinweis auf eine Störung des Zuckerstoffwechsels. Liegt der Blutzuckerwert bei über 125 mg/dl, gibt das dem Arzt oder der Ärztin den Hinweis auf Diabetes mellitus.
Für die anschließende Behandlung legt die Ärztin oder der Arzt einen Zielwert fest, der bei jeder Patientin und jedem Patienten unterschiedlich ausfallen kann. Der Zielwert richtet sich nach der Situation und den Begleitumständen der Betroffenen wie Alter oder Erkrankungen. Bei schwangeren Frauen etwa wird ein Blutzuckerwert unter 90 mg/dl angestrebt, während bei einer Person mit schweren Erkrankungen im Krankenhaus ein Wert unter 180 mg/dl ausreichen könnte.
Kurzum: Zielwerte können beeinflussen, ab wann eine Erkrankung behandelt wird. So kann es zum Beispiel sein, dass der Grenzwert für Diabetes überschritten wurde, der individuelle Zielwert aufgrund der Begleitumstände aber noch keine Behandlung notwendig macht.
Die Grundlage für die Festlegung von Grenz- und Zielwerten bilden wissenschaftliche Studien. Darin wird zum einen untersucht, ob man mit Werten außerhalb gewisser Bereiche ein höheres Risiko hat zu erkranken oder zu sterben. Zum anderen wird überprüft, ob es für Betroffene einen größeren Nutzen als Schaden hat, wenn die Werte durch eine Behandlung in einen bestimmten Bereich gebracht werden.
Die Framingham-Herz-Studie hat systematisch die Ursachen und Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen in der Bevölkerung erhoben. Die Studie ergab, dass Personen mit erhöhtem Blutdruck oder mit hohen Cholesterinwerten häufiger von Herz-Kreislauf-Erkrankungen betroffen sind und früher sterben als Personen mit niedrigeren Werten.
Auf internationaler Ebene ist die WHO dafür zuständig, die für eine Erkrankung geltenden Grenzwerte zu bestimmen.
Zielwerte legen in der Regel die nationalen medizinischen Fachgesellschaften fest. Sie geben Leitlinien heraus, in denen die empfohlenen Schritte bei der Untersuchung und Behandlung einer Erkrankung beschrieben werden. Diese Empfehlungen richten sich nach aktuell verfügbaren Studienergebnissen und werden in der Regel von einer Gruppe medizinischer Experten zusammengestellt.
Neue Studien bringen oftmals neue Erkenntnisse mit sich. Daraus folgt, dass sich empfohlene Zielwerte in den Leitlinien und damit auch die Empfehlungen für die Behandlung ändern können.
Beispiel regionale Unterschiede: Es kann vorkommen, dass die jeweiligen Fachgesellschaften in verschiedenen Ländern unterschiedliche Zielwerte festlegen, z. B. weil sie Studienergebnisse unterschiedlich einschätzen. Manchmal wertet die eine Fachgesellschaft eine für eine Studie angewandte Methode als gängige Praxis, während eine andere Fachgesellschaft die gleiche Methode eher kritisch betrachtet.
Für Bluthochdruck (Hypertonie) existieren unterschiedliche Grenzwerte: Die Europäische Gesellschaft für Kardiologie (ESC) definiert Hypertonie in ihrer aktuellen Leitlinie mit einem Blutdruckwert von größer oder gleich 140/90 mmHg. In den USA hingegen wurde von den dortigen Fachgesellschaften in der aktuellen Leitlinie ein Blutdruckwert von 130/80 mmHg als Grenzwert für eine Hypertonie festgelegt. Diese niedrigeren Grenzwerte werden mit den Ergebnissen einer aktuellen randomisiert-kontrollierten Studie begründet. Europäische Fachgesellschaften und andere Experten und Expertinnen stehen den Ergebnissen jedoch kritisch gegenüber. Hauptkritikpunkt dabei ist die in der Studie verwendete Methode zur Blutdruckmessung durch die Patientinnen und Patienten selbst, die nicht einer üblichen Messung in einer Arztpraxis entspricht und so niedrigere Blutdruckwerte erzeugt. Eine Übertragbarkeit der Ergebnisse in die Praxis sei daher nicht gegeben.
Ähnliche Unterschiede und Kontroversen wie beim Bluthochdruck gibt es beim Thema Cholesterin: Hier empfiehlt wiederum die Europäische Leitlinie der ESC wesentlich niedrigere Therapie-Zielwerte für das LDL-Cholesterin als die entsprechenden US-amerikanischen Fachgesellschaften.
„Das schicken wir jetzt ins Labor.“ Wenn der Arzt diesen Satz sagt, scheint eine Gewissheit in Sicht: gesund oder krank. Welche Laborwerte sind wichtig? Und wie eindeutig sind sie?
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Erstellt am: 05.05.2021