Bei Rückenschmerzen wird zu viel geröntgt, bei Erkältungen werden zu viele Antibiotika verschrieben – aber viele Bluthochdruckpatienten sind nicht optimal eingestellt und Menschen mit psychischen Problemen warten monatelang auf eine Psychotherapie. Was läuft hier schief? Warum bekommen einige Patienten mehr als für sie gut ist und andere weniger? Über Ursachen und Folgen von medizinischer Über-, Unter- oder Fehlversorgung diskutierten Experten mit dem Publikum bei der sechsten Sprechstunde der Stiftung Gesundheitswissen und ZEIT DOCTOR am 26. September 2019 in Berlin.
„In unserem Gesundheitssystem werden nicht nur wertvolle Ressourcen unnötig und unangemessen verbraucht. Viele Patienten erhalten auch ein Übermaß an medizinischer Versorgung, anderen bleibt die medizinisch notwendige Versorgung vorenthalten, und wieder andere werden falsch behandelt“, brachte Dr. Ralf Suhr, der Vorstandsvorsitzende der Stiftung Gesundheitswissen (SGW), die Problemlage auf den Punkt, wie sie bereits im Gutachten 2000/2001 des Sachverständigenrats für die Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen aufgezeigt wurde.
Über zahlreiche Beispiele dafür, aber auch über Lösungsansätze tauschten sich die Gäste der „Sprechstunde“ mit dem Publikum aus. Die Experten auf dem Podium: Prof. Dr. Alena Buyx, Professorin für Medizinethik an der Technischen Universität München und Mitglied des Deutschen Ethikrates, Prof. Dr. David Klemperer, Professor für Sozialmedizin und Public Health, Mitglied im Expertenbeirat der SGW und Mitinitiator der deutschen Choosing-Wisely-Initiative, Dr. Anne Letsch, Oberärztin und Leitung des Palliativbereichs in der Klinik für Hämatologie und Onkologie, Charité Berlin und Dr. Hans-Otto Wagner, Facharzt für Allgemeinmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf; Mitautor der DEGAM-Leitlinie „Schutz vor Über- und Unterversorgung“.
Gibt es überhaupt ein Zuviel an Medizin?
„Die Durchführung von unnützen Operationen gehört zum medizinischen Alltag“, stellte Prof. David Klemperer fest. Obwohl es keine belastbaren Zahlen für Deutschland gäbe, hätten Untersuchungen beispielsweise gezeigt, dass in manchen Regionen Deutschlands Kindern acht Mal häufiger die Mandeln entfernt würden als in anderen. Dem pflichtete der Allgemeinmediziner Dr. Hans-Otto Wagner bei und berichtete aus seinem Behandlungsalltag von Patientinnen und Patienten, die häufig direkt Fachärzte aufsuchen und dann Diagnostikverfahren oder Therapien erhalten würden, obwohl ihre medizinische Diagnose gar nicht mit körperlichen Beschwerden verbunden sei.
Auch in der Behandlung unheilbar kranker Krebspatienten gebe es oft eine Überversorgung, erzählt die Palliativmedizinerin Dr. Anne Letsch: Teilweise würden Therapien durchgeführt, die die Lebenserwartung nur in geringem Maße verlängern, aber für den Patienten erhebliche Nebenwirkungen mitbrächten und damit die Lebensqualität einschränkten. Die Wünsche der Patienten würden oft noch zu wenig berücksichtigt – auch weil es schlicht zu wenig Zeit gebe, um mit den Patienten zusammen abzuwägen und zu entscheiden.
Was sind die Ursachen für eine Überversorgung?
Dass es medizinische Behandlungen ohne Nutzen gibt, hat für Prof. Alena Buyx vor allem wirtschaftliche Gründe. Durch das System der Fallpauschalen in Krankenhäusern würden falsche Anreize geschaffen. Oft müssten Ärzte dazu noch eine vorab festgelegte Mindestzahl an Fällen oder Operationen einhalten, das sei aus ethischer Sicht sehr bedenklich.
Die „Angst etwas zu versäumen“ sieht Dr. Hans-Otto Wagner als weitere Ursache für ein Zuviel an Diagnostik und Therapie. Die Ärzte wollten sich damit auch juristisch absichern. Nicht zuletzt werde jedoch auch deshalb viel Unnötiges gemacht, weil die Patientinnen und Patienten dies einforderten, berichteten die Gäste auf dem Podium einhellig. „Da prallen Erwartungshaltungen aufeinander“, erzählt Prof. Buyx von ihren Erfahrungen: „Patienten gehen zum Arzt, weil sie wollen, dass etwas passiert. Und wehe, der macht dann gar nichts“, so Buyx. Hier sieht Prof. Klemperer die Ärzte in der Pflicht, besser mit den Patienten zu kommunizieren: Sie müssten den Patienten mehr erklären, warum zum Beispiel bei Halsschmerzen kein Antibiotikum verordnet wird.
Was können Ärzte und Patienten gegen Über-, Unter- oder Fehlversorgung tun?
Um Über-, Unter- und Fehlversorgung zu vermeiden, plädiert der Allgemeinmediziner Dr. Wagner für ein Primärarztsystem: Mit den meisten Beschwerden erst zum Hausarzt zu gehen, der einen beraten und gegebenenfalls zu einem geeigneten Facharzt überweisen kann – dadurch ließen sich etliche nutzlose Arztbesuche und Maßnahmen verhindern. „Das sehe ich auch so“, stimmte Klemperer zu. „Fachärzte seien oft Enthusiasten.“ Nicht immer sei alles wirklich erforderlich, was die Fachärzte machten. Er riet Patientinnen und Patienten, sich anhand der „5 Fragen an den Arzt“ der Stiftung Gesundheitswissen mit der angebotenen Behandlung auseinanderzusetzen. Dazu gehöre auch zu fragen: „Was passiert, wenn ich nichts tue?“
Viel wäre schon getan, wenn Ärzte und Ärztinnen einerseits mehr Zeit hätten und andererseits mit den vorhandenen Hilfen und Leitlinien arbeiten würden, meinte die Palliativmedizinerin Dr. Letsch. In der Onkologie beispielsweise sei in den Leitlinien klar festgehalten, dass Patienten, denen es schlecht geht und bei denen vorangegangene Therapien keine Wirkung gezeigt hätten, nicht mit Therapien weiterbehandelt werden sollten, deren Nutzen nicht klar ist.
„Es gibt nicht eine Lösung“, betonte Buyx. Das Problem sei vielschichtig und auch kulturell verankert. Ihre Vorschläge: Schon früh mit dem Schulfach Gesundheitserziehung ansetzen und mehr gesunden Menschenverstand einsetzen.
Einig war sich das Podium darin, dass Arzt und Patienten lernen müssten, miteinander besser ins Gespräch zu kommen und Entscheidungen gemeinsam zu treffen. Die gemeinsame Entscheidungsfindung („Shared Decision Making“) müsse verpflichtend zu den Leistungen gehören, die ein Mediziner immer erbringen müsse, um eine Behandlung abrechnen zu können, schlug Klemperer vor.
„Wir haben schon eine Menge erreicht und viele Voraussetzungen dafür geschaffen, dass es besser wird“, zeigte sich Klemperer optimistisch. In der Ausbildung der Mediziner sei die Arzt-Patienten-Kommunikation nun fest verankert, so Klemperer. Auch in den Leitlinien würden Aspekte der gemeinsamen Entscheidungsfindung immer stärker berücksichtigt.