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Harninkontinenz

Perkutane Elektrostimulation: Hilft sie bei Dranginkontinenz?

Eine Möglichkeit der Behandlung von Dranginkontinenz ist die Elektrostimulation. Dabei werden mittels elektrischer Reize Nerven angeregt, die Einfluss auf die Blasenfunktion haben. Es stehen verschiedene elektrotherapeutische Verfahren zur Verfügung, die nicht mit Operationen verbunden sind. Eines davon ist die perkutane Elektrostimulation des Schienbeinnervs (Nervus tibialis). Dabei wird im Bereich des Innenknöchels in der Nähe des Schienbeinnervs eine feine Nadelelektrode in die Haut eingebracht. Die Nadel ist mit einem Gerät verbunden, das kurze elektrische Impulse mit geringen Stromstärken aussendet. Der Scheinbeinnerv ist nicht direkt an der Regulierung der Blasenentleerung beteiligt. Man geht aber davon aus, dass der Schienbeinnerv andere Nerven beeinflusst, die mit der Blasenentleerung im Zusammenhang stehen. Mit der Elektrostimulation soll verhindert werden, dass sich der Blasenmuskel zu häufig zusammenzieht und sich die Harnblase ungewollt entleert.

Im Studiencheck „Elektrostimulation des Schienbeinnervs mittels Nadel“ wurde der Nutzen und Schaden dieser Methode anhand der aktuellen wissenschaftlichen Studiendaten geprüft.

Was wurde untersucht?

In drei randomisiert-kontrollierten Studien (RCTs) wurde untersucht, ob die perkutane Elektrostimulation zu einer Verbesserung der Dranginkontinenzbeschwerden und der Lebensqualität führen kann. Gegenstand der Studien war darüber hinaus, inwiefern sich die täglichen Dranginkontinenzepisoden bei den Studienteilnehmern verringerten und ob die Elektrostimulation mit Nebenwirkungen verbunden war.

An den Studien nahmen Personen teil, deren Dranginkontinenz auf keine fassbare körperliche Ursache, wie eine Erkrankung des Nervensystems, zurückzuführen war. In einer Studie waren die Teilnehmer und Teilnehmerinnen seit ungefähr 10 Jahren von Dranginkontinenz betroffen. In den zwei kleineren Studien seit mindesten 3 Monaten. Die Teilnehmenden erhielten jeweils entweder:

  • Behandlungen mit perkutaner Elektrostimulation
  • Eine Scheinbehandlung, die in vergleichbarer Weise wie die Elektrostimulation durchgeführt, aber ohne tatsächliche Reizung des Schienbeinnervs

Die Behandlungen dauerten jeweils 30 Minuten. In einer Studie erhielten die Teilnehmenden 12 Wochen lang je eine Behandlung pro Woche, in der zweiten Studien erhielten die Teilnehmenden 4 Wochen lang je 3 Behandlungen pro Woche  und in der dritten Studie 6 Wochen lang je 6 Behandlungen pro Woche.

Die Ergebnisse auf einen Blick

Bei erwachsenen Personen mit Dranginkontinenz kann eine perkutane Elektrostimulation des Nervus tibialis im Vergleich zu einer Scheinbehandlung im Zeitraum von 4 bis 24 Wochen sowohl zu einer Verbesserung der Symptome einer Dranginkontinenz führen als auch die Lebensqualität mit Dranginkontinenz verbessern. Auch die täglichen Dranginkontinenzepisoden können verringert werden. Angaben zu Personen ohne Dranginkontinenz nach Ende der Intervention (100% Remission) finden sich in keiner der inkludierten RCTs.

Bei dieser Behandlungsart kann es zu leichten bis mäßigen Nebenwirkungen, wie Schmerzen oder Bluten an der Einstichstelle, kommen. 

Die Studienqualität ist moderat bis gut.

Einschränkung der Ergebnisse

Die Ergebnisse gelten für Menschen, bei denen die Dranginkontinenz nicht auf eine körperliche Ursache, wie beispielsweise eine Erkrankung des Nervensystems, zurückzuführen ist. Ob die Verbesserung der Dranginkontinenz durch Elektrostimulation über den Behandlungszeitraum hinweg länger anhalten kann, wurde nicht untersucht.

Nutzen der Behandlungsmethode

Bei wie vielen Personen verbesserten sich die Dranginkontinenzbeschwerden, nachdem sie mit Elektrostimulation des Schienbeinnervs mittels Nadel behandelt wurden?

Im Anschluss an die Behandlungs- bzw. Scheinbehandlungs-Serien wurden die Teilnehmenden befragt, ob sich aus ihrer persönlichen Einschätzung die Beschwerden verbessert waren.

Die folgenden Zahlen basieren auf einer rechnerischen Zusammenfassung der Ergebnisse der drei Studien.
Nach der Elektrostimulation des Schienbeinnervs verbesserten sich demnach die Dranginkontinenzbeschwerden bei 45 von 100 Personen.

Nach der Scheinbehandlung verbesserten sich die Dranginkontinenzbeschwerden bei 16 von 100 Personen.

Reduzierten sich durch die Elektrostimulation des Schienbeinnervs mittels Nadel die täglichen Dranginkontinenzepisoden?

Im Anschluss an die Behandlung bzw. Scheinbehandlung wurde die Anzahl der täglichen Dranginkontinenzepisoden erfasst. Dazu füllten die Teilnehmenden über drei Tage ein Miktionstagebuch (Blasentagebuch) aus. 
Das Ergebnis: Elektrostimulation kann die Anzahl der Dranginkontinenzepisoden innerhalb von 24 Stunden merklich stärker verringern als die Scheinbehandlung.

Verbesserte sich durch die Elektrostimulation des Schienbeinnervs mittels Nadel auch die Lebensqualität mit Dranginkontinenz?

Auch mögliche Veränderungen der Lebensqualität nach der Behandlung bzw. Scheinbehandlung wurden untersucht. Dies geschah mit Hilfe von verschiedenen Fragebögen, die speziell auf die Abfrage der Lebensqualität bei Dranginkontinenz ohne fassbare körperliche Ursache ausgelegt waren.

Das Ergebnis: Die Lebensqualität bei Dranginkontinenz kann durch die Elektrostimulation stärker als durch die Scheinbehandlung erhöht werden.

Bei wie vielen Personen traten Nebenwirkungen in Zusammenhang mit der Elektrostimulation des Schienbeinnervs auf?

In einer der drei Studien berichteten 5 von 100 Personen, die mit Elektrostimulation behandelt wurden, über leichte bis mäßige Nebenwirkungen. Dazu zählten: Einblutungen an der Einstichstelle der Nadel, Unbehagen an der Einstichstelle, Bluterguss am Knöchel sowie Kribbeln im Bein. Bei einigen dieser Personen traten auch mehr als eine der genannten Nebenwirkungen auf. Diejenigen, die nur eine Scheinbehandlung erhielten, berichteten keine Nebenwirkungen. Schwere Nebenwirkungen traten nicht auf.

In der zweiten Studie traten bei 28 von 100 Personen in der Behandlungsgruppe Nebenwirkungen an der Einstichstelle auf. Dazu gehörten Schmerzen oder Unbehagen an der Einstichstelle, Bluten oder Bluterguss an der Einstichstelle, Kribbeln im Bein und eine Knöchelverstauchung. In der Placebogruppe traten bei 16 von 100 Personen Nebenwirkungen auf. Hier traten Schmerzen oder Unbehagen an der Einstichstelle sowie Bluten oder Bluterguss an der Einstichstelle auf.

In der dritten Studie wurde lediglich berichtet, dass keine schweren Nebenwirkungen auftraten.

Einschränkung der Ergebnisse

Die Ergebnisse gelten für Menschen, bei denen die Dranginkontinenz nicht auf eine körperliche Ursache, wie beispielsweise eine Erkrankung des Nervensystems, zurückzuführen ist. Ob die Verbesserung der Dranginkontinenz durch Elektrostimulation des Schienbeinnervs über den Behandlungszeitraum hinweg länger als 3 Monate anhalten kann, wurde in den Studien nicht untersucht.

Zwei Studien sind von hoher methodischer Qualität, eine Studie ist von moderater methodischer Qualität. Es gab nur drei Studien mit insgesamt 290 Teilnehmenden. Die Informationen und Zahlen stellen keine endgültige Bewertung dar, sondern basieren auf den besten derzeit verfügbaren Erkenntnissen. Weitere Forschung könnte zu anderen Ergebnissen kommen.

Die Ergebnisse stammen aus drei randomisiert-kontrolliert Studien.

An der Studie von Lashin et al. (2021) nahmen insgesamt 50 Personen teil. Der Frauenanteil betrug 74%. Das Durchschnittsalter der Teilnehmenden betrug 37 Jahre. 34% der Teilnehmenden mit nasser überaktiver Blase, der Rest mit trockener überaktiver Blase. Die Teilnehmenden hatten seit mehr als 3 Monaten Symptome einer überaktiven Blase, mindestens 10-mal pro Tag Drangepisoden und schon erfolglose konservative Therapien hinter sich. Der Studien-follow-up betrug 6 Monate. Die Studie wurde in Ägypten durchgeführt. Keine Angaben fanden sich zur Dauer der Inkontinenz, zum Schweregrad der Inkontinenz, zur medikamentösen Vorbehandlung sowie zur medikamentösen Begleittherapie.

In der Studie von Peters et al. (2010) wurden 208 Personen untersucht, 79 % davon waren weiblich. Das mittlere Alter lag in dieser Studie bei knapp über 60 Jahren. Die Studie wurde in den USA durchgeführt. Der Studien-follow-up betrug 13 Wochen. Die Teilnehmenden hatte eine überaktive Blase mit durchschnittlich über 10 Blasenentleerungen pro Tag. Die Symptome einer überaktiven Blase bestanden seit mindestens 3 Monaten. Die Teilnehmenden hatten bereits eine erfolglose konservative Behandlung gehabt. Zur Zeit der Studie wurde keine medikamentöse Therapie durchgeführt. In der Behandlungsgruppe hatte 66 von 100 Personen eine medikamentöse Vorbehandlung, in der Kontrollgruppe 69 von 100 Personen. Es wurde im Jahr vor der Studie keine Botox-Therapie an der Blase oder dem Beckenbodenmuskel durchgeführt. Es lagen keine Harnwegsinfekte oder Vaginalinfektionen vor. Die Teilnehmenden hatten ihre Inkontinenz im Durchschnitt seit 10 Jahren Zum Schweregrad der Inkontinenz wurden keine Angaben gemacht.

Im RCT von Finazzi-Agro et al. (2010) wurden 32 Frauen untersucht. Das mittlere Alter der Frauen in dieser Studie lag bei etwa 45 Jahren. Alle Frauen hatten Dranginkontinenz. Zum Schweregrad der Dranginkontinenz lagen keine Angaben vor. Es lagen ebenfalls keine Informationen dazu vor, wie lange die Frauen bereits die Inkontinenz hatten. Eingeschlossen wurden Frauen mit erfolgloser Behandlung mit Verhaltenstherapie oder Antimuskarinika. Zum Zeitpunkt der Studien wurden die Frauen nicht mit Medikamenten behandelt oder die medikamentöse Therapie war mindestens 30 Tage vor Studie unverändert. Bei den teilnehmenden Frauen lagen keine neurologischen Erkrankungen, keine bestehenden oder wiederholten Harnwegsinfekte (mehr als 4-mal pro Jahr), kein Diabetes mellitus, keine Blasen- oder Nierensteine, Harnblasenfistel, keine interstitielle Zystitis und zystoskopische Auffälligkeiten mit Verdacht auf Malignität. Das mittlere Follow-up der Studie betrug 4 Wochen. Die Studie wurde in Italien durchgeführt.

Quellen und Hinweise

Unsere Gesundheitsinformationen können eine gesundheitsbezogene Entscheidung unterstützen. Sie ersetzen nicht das persönliche Gespräch mit einem Arzt oder einer Ärztin und dienen nicht der Selbstdiagnostik oder Behandlung.

Finazzi-Agrò E, Petta F, Sciobica F, Pasqualetti P, Musco S, Bove P. Percutaneous tibial nerve stimulation effects on detrusor overactivity incontinence are not due to a placebo effect: a randomized, double-blind, placebo controlled trial. J Urol 2010;184(5):2001–6.

Lashin AM, Eltabey NA, Wadie BS. Percutaneous tibial nerve stimulation versus sham efficacy in the treatment of refractory overactive bladder: outcomes following a shortened 6-week protocol, a prospective randomized controlled trial. Int Urol Nephrol 2021; 53(12):2459–67. doi: 10.1007/s11255-021-02999-0.

Peters KM, Carrico DJ, Perez-Marrero RA, Khan AU, Wooldridge LS, Davis GL et al. Randomized trial of percutaneous tibial nerve stimulation versus Sham efficacy in the treatment of overactive bladder syndrome: results from the SUmiT trial. J Urol 2010;183(4):1438–43.

Unsere Angebote werden regelmäßig geprüft und bei neuen Erkenntnissen angepasst. Eine umfassende Prüfung findet alle drei bis fünf Jahre statt. Wir folgen damit den einschlägigen Expertenempfehlungen, z.B. des Deutschen Netzwerks für Evidenzbasierte Medizin.

Informationen dazu, nach welchen Methoden die Stiftung Gesundheitswissen ihre Angebote erstellt, können Sie in unserem Methodenpapier nachlesen.

Autoren und Autorinnen:
Lisa-Marie Ströhlein
Lisa-Marie Ströhlein

Lisa-Marie Ströhlein

Medical Writerin
Lisa-Marie Ströhlein studierte Medizinische Biologie mit dem Schwerpunkt Wissenschaftskommunikation. Für die Stiftung bereitet sie komplexe medizinische Themen und Inhalte in laienverständlicher Sprache auf.
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Michael Mibs
Michael Mibs

Michael Mibs

Referent Evidenzbasierte Medizin
Michael Mibs ist studierter Gesundheitswissenschaftler und Soziologe. Für die Stiftung erarbeitet er Inhalte für multimediale Informationsangebote auf Basis der Methoden der evidenzbasierten Medizin und konzipiert Analysen mit Bezug zur klinischen Versorgung.
Wissenschaftliche Beratung:
Mag. (FH) Christine Loder

Mag. (FH) Christine Loder

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Univ. Ass. Mag. rer. nat. Thomas Semlitsch
Portrait Univ.Ass. Mag.rer.nat. Thomas Semlitsch

Univ. Ass. Mag. rer. nat. Thomas Semlitsch

Mag. rer. nat. Thomas Semlitsch studierte Chemie mit dem Ausbildungsschwerpunkt Biochemie und Zellbiologie der Karl Franzens Universität Graz. Vor seiner Anstellung an der Medizinischen Universität Graz war er mehrere Jahre im Bereich Qualitätsmanagement und als Koordinator klinischer Studien an einer österreichischen Privatklinik tätig und absolvierte 2007 eine Post-Graduate Ausbildung zum Good Laboratory Practice (GLP) -Beauftragten für den Bereich analytisches Labor. Von 2008 bis 2014 war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Research Unit „EBM Review Center“ der Medizinischen Universität Graz und von 2011 bis 2014 auch am Institut für Biomedizin und Gesundheitswissenschaften der Joanneum Research Forschungsgesellschaft tätig. Seit 2015 ist er als Univ. Assistent am Institut für Allgemeinmedizin und evidenzbasierte Versorgungsforschung im Fachbereich Evidenzbasierte Medizin beschäftigt. Herr Semlitsch ist seit 2018 Fachbereichssprecher der Sektion Österreich und somit Mitglied des erweiternden Vorstands des Deutschen Netzwerks Evidenz basierte Medizin (DNEbM).

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Erstellt am: 30.05.2024