Berlin, 16. Dezember 2020 - Wer krank ist, hat einen Defekt - ist dieser repariert, ist der Patient geheilt. So dachte man früher über Krankheit und Gesundheit. Heute weiß man: Das trifft nur auf die wenigsten Krankheiten zu. In den meisten Fällen handelt es sich bei der Entstehung von Krankheiten und deren Heilung um komplexe Probleme, bei denen Körper, Psyche und soziales Umfeld zusammenspielen.
Wenn man sich unwohl fühlt oder Schmerzen hat, möchte man möglichst schnell den Grund dafür finden. Doch das ist nicht immer ganz einfach. Bei Rückenschmerzen beispielsweise kann in über 80 Prozent der Fälle keine konkrete, körperliche Ursache gefunden werden. Bei diesen sogenannten unspezifischen Rückenschmerzen können körperliche Auslöser, wie z. B. das Heben schwerer Gegenstände, auf Vorbelastungen wie Stress bei der Arbeit oder Überforderung in der Pflege von Angehörigen, bereits bestehende Verspannungen oder einer pessimistischen Grundeinstellung treffen, die die Schmerzen verstärken oder erhalten.
Auch Erkrankungen, bei denen eine körperliche Ursache gefunden wird, können seelische und soziale Folgen haben, die die Krankheit verstärken oder chronisch werden lassen. Andererseits können auch bei Störungen, die Ärzte vor allem auf der psychischen Seite verorten würden (wie Depressionen) körperliche Faktoren eine Rolle spielen.
Dieses ganzheitliche Verständnis von Krankheit bzw. Gesundheit beschreibt das biopsychosoziale Modell. Der Begriff wurde Ende der 1970er-Jahre von dem amerikanischen Medizintheoretiker George L. Engel geprägt. Bei seiner Arbeit im Krankenhaus sah er, dass eine junge Patientin im Krankenhaus sowohl auf psychischer als auch auf körperlicher Ebene positiv auf die Anwesenheit eines bestimmten Menschen reagierte. Diese Beobachtung brauchte ihn dazu, sich weiter damit zu beschäftigen, wie Gefühle, Beziehungen und körperliche Reaktionen sich gegenseitig beeinflussen.
Krankheit und Gesundheit bedeuten in diesem Modell keinen Zustand, sondern werden als dynamisches Geschehen betrachtet. Entscheidend ist das Zusammenspiel von krankmachenden und schützenden Faktoren: In allen drei Systemen - dem biologischen, dem psychischen und dem sozialen - können krankmachende Faktoren (Stressoren) wirksam werden, die die Gesundheit beeinträchtigen.
Im biologischen System können es zum Beispiel Keime sein, die eine Infektion hervorrufen oder ein Unfall, der eine Verletzung verursacht. Im psychischen System können z. B. Angst oder Depressivität Belastung bedeuten, im sozialen System wirken sich z. B. schlechte Wohn- oder Arbeitsbedingungen negativ aus. Je nach Erkrankung, Umwelteinflüssen und persönlichen Eigenschaften wirkt mal der eine und mal der eine Faktor stärker.
Das Zusammenspiel der Faktoren Biologie, Psychologie und soziales Umfeld bedeutet auch, dass wir „Störungen“ zu einem gewissen Ausmaß selbst regulieren und bewältigen können: Denn es gibt auf jeder Ebene etwas, was man selbst tun kann, um Einfluss auf seine Gesundheit zu nehmen. Bei den körperlichen Faktoren sind es zum Beispiel ausreichend Schlaf, regelmäßige Bewegung und eine bedarfsgerechte, gesunde Ernährung, die sich als förderlich erweisen. Zu den gesundheitsförderlichen psychischen Faktoren gehören z. B. Stress vermeiden, eine positive Grundhaltung und eine Beschäftigung, die das Gefühlt gibt, gebraucht zu werden. Ein regelmäßiger Austausch mit Freunden und Bekannten, Unternehmungen und Mobilität sind soziale Faktoren, die wir beeinflussen können.
Das biopsychosoziale Modell ist international anerkannt und gilt inzwischen als die bedeutendste Theorie für die Beziehung zwischen Körper und Psyche. Auch die „Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit" (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) basiert auf diesem Modell.
Die Denkanstöße und Debatten rund um dieses Verständnis von Krankheit haben dazu geführt, dass die strikte Unterscheidung zwischen krank und gesund als überholt gilt. Man geht heute davon aus, dass Menschen auf der biologischen, psychologischen und sozialen Ebene mehr oder weniger funktionsfähig sind. Das bedeutet, kranke Menschen sind immer auch mehr oder weniger gesund.
Folgt man der Annahme, dass bei einer Erkrankung Biologie, Psychologie und soziales Umfeld zusammenwirken, sollte eine Behandlung nicht nur auf einer Ebene ansetzen. Man muss alle individuellen Einflussfaktoren in den Blick nehmen. Außerdem kommt es auf eine gute Zusammenarbeit und den Austausch zwischen den Berufsgruppen an. Bei der Therapie chronischer Schmerzen werden deshalb u. a. sogenannte multimodale Therapien angeboten, bei denen Behandlungen interdisziplinär auf allen Ebenen durchgeführt werden.