Berlin, 07.05.2021 - Die Diskussion, ob Präventionsmaßnahmen eher auf individuelle Verhaltensänderung abzielen sollten oder auf eine Verbesserung der Verhältnisse, hat sich überholt. Heute setzt man auf die professionelle Kombination von Aufklärung, gesunderhaltenden Rahmenbedingungen und Strukturen vor Ort. Doch es gibt Nachholbedarf – bei Koordination, Evidenz und Nachhaltigkeit.

Berlin im Jahr 1888: In der Charité werden viele Patienten und Patientinnen behandelt, die nicht nur unter Infektionskrankheiten wie Tuberkulose leiden, sondern auch an Verletzungen, die die industrielle Revolution mit sich bringt. Der Mediziner Rudolf Virchow untersuchte schon damals, wie sich Wohnsituation und Arbeitsbedingungen – sprich die Verhältnisse – auf die gesundheitliche Situation der Arbeiter auswirkten. Die Frage, welche Rolle Umweltfaktoren und Lebensverhältnisse, beziehungsweise deren Verbesserung, in der gesundheitlichen Prävention spielen sollen, treibt Experten und Expertinnen schon ziemlich lange um. Und sie gewinnt weiter an Brisanz. Klimakrise und schwindende Biodiversität fördern die Verbreitung neuer Epidemien. Extremwetter, Hitzewellen, Nahrungs- und Wasserknappheit beeinträchtigen die Gesundheit vieler Menschen weltweit – vor allem von Kindern und sozial Schwachen.

Noch sind nicht übertragbare Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Krebs oder Lungenerkrankungen laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) für 90 Prozent aller Todesfälle in der europäischen Region verantwortlich. Das Verhalten der Menschen spielt dabei eine Rolle: Manche trinken zu viel Alkohol oder rauchen, andere essen zu viel und unausgewogen. Viele lieben zucker-, salz- und fetthaltige Produkte. So wird Deutschland langsam immer dicker. Das Dilemma vieler Präventionsbemühungen: Die Maßnahmen kommen bei denjenigen oft nicht gut genug an, die sie am nötigsten hätten – Älteren, Ärmeren und Menschen mit geringer Bildung.

Neue Präventionsstrategie  Button: Infokorb-Ablage In den Infokorb legen

Auch deswegen bestimmte die Diskussion, welche Präventionsmaßnahmen am meisten Wirkung entfalten, lange die Debatte der Expertinnen und Experten in Deutschland – jene, die auf die Verhaltensänderung Einzelner abzielen, oder jene, die die Lebensverhältnisse verbessern. Die Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung, die Ende 1986 im kanadischen Ottawa zum Abschluss der Ersten Internationalen Konferenz zur Gesundheitsförderung von der WHO veröffentlicht wurde, hatte bereits die ersten Weichen gestellt. Im Präventionsgesetz fanden die Erkenntnisse schließlich Niederschlag. Es leitete 2015 den Wechsel zu einer neuen nationalen Präventionsstrategie ein. Nun soll ein großer Teil der Präventionsausgaben, die bislang vor allem in Verhaltensänderungskampagnen flossen, genutzt werden, um gesundheitsfördernde Verhältnisse in Kitas, Schulen, Kommunen und Pflegeeinrichtungen zu fördern. „Durch die Verabschiedung des Präventionsgesetzes und dessen Umsetzung wurde 2015 der Stellenwert der Prävention und Gesundheitsförderung sichtbar und bereits deutlich erhöht“, sagt Prof. Dr. Heidrun Thaiss, Leiterin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Das Gesetz habe mit seinem Fokus auf Lebenswelten dazu beigetragen, die Verhältnisse deutlicher in den Blick zu nehmen. Die Humanmedizinerin ist überzeugt: 

Wenn Prävention zur Verminderung ungleicher Gesundheitschancen beitragen soll, muss sie in erheblichem Maße auch auf Verhältnisänderung setzen.

PROF. DR. HEIDRUN THAISS, Leiterin BZgA

Verhältnispräventive Maßnahmen müssten in der Umsetzung Vorrang haben, neben der Orientierung an dem WHO-Prinzip Health in All Policies – also dem Prinzip, gesundheitliche Aspekte in allen Politikfeldern mit zu berücksichtigen. 

Mit ihren Mehr-Ebenen-Kampagnen setzt die BZgA verhaltens- und verhältnispräventive Angebote um. Ein Beispiel ist die Jugendkampagne „Alkohol? Kenn dein Limit“, die vom Verband der Privaten Krankenversicherung unterstützt wird. Die zielgruppengerechte Präventionskampagne beinhaltet zudem personalkommunikative Angebote, etwa Mitmach-Aktionen in Schulen und Sportvereinen, in die weitere kommunale Akteure wie Beratungsstellen vor Ort eingebunden werden.

Die Macht der Politik  Button: Infokorb-Ablage In den Infokorb legen

Wie wirksam es sein kann, zusätzlich zur Bewusstseinsbildung über Aufklärungskampagnen auch die gesetzlichen Rahmenbedingungen zu verändern, zeigt der Erfolg der Nichtraucherstrategie in den USA. Erst als Bund und Staaten die Tabakindustrie verklagten, ein flächendeckendes Rauchverbot einführten und die Werbung dramatisch einschränkten, gelang es, den Zigarettenkonsum unattraktiv zu machen und auf ein sehr niedriges Niveau zu drücken.

Deutschland ist noch nicht ganz so konsequent vorgegangen. Es verzahnt aber ebenfalls verhaltens- und verhältnispräventive Maßnahmen wie Aufklärungskampagnen (Passivrauchen), Vor-Ort-Programme (rauchfreie Schule) oder Onlinecoaching für den Einstieg in ein rauchfreies Leben mit gesetzlichen Maßnahmen wie dem Nichtraucherschutzgesetz. Damit wurde immerhin erreicht, dass vor allem junge Deutsche weniger zur Zigarette greifen. Mit dem Tabakwerbeverbot ließ man sich aber Zeit – es wird erst in den kommenden zwei Jahren vollständig umgesetzt. Die Möglichkeit, Zigaretten über Tabaksteuern zu verteuern, wird von anderen Ländern ebenfalls konsequenter genutzt. In welchem Verhältnis verschiedene Präventionsmaßnahmen zum Einsatz kommen, hängt also auch mit dem politischen Willen zusammen.

Das richtige Zusammenspiel  Button: Infokorb-Ablage In den Infokorb legen

Doch wie greifen Verhältnis- und Verhaltensprävention am wirkungsvollsten ineinander? Bislang gibt es dafür in Deutschland wenig Evidenz. „Diese Frage muss in jedem einzelnen Fall neu gestellt, wissenschaftlich begründet und seriös evaluiert werden“, sagt Prof. Dr. Elisabeth Pott. Die langjährige Direktorin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ist unparteiisches Mitglied des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) und engagiert sich im Stiftungsrat der Stiftung Gesundheitswissen (SGW). „Verhältnisse sind oft Strukturen. Man muss diese Strukturen schaffen und so anlegen, dass Maßnahmen längerfristig tragen und Wirkung entfalten können“, so Prof. Pott. 

Wer zum Beispiel ältere Menschen befähigen wolle, im Alltag mobil und gesund zu bleiben, dürfe sie nicht nur ermutigen, sich zu bewegen, sondern müsse auch dafür sorgen, dass die Verhältnisse ihnen diese Bewegung ermöglichen und ihnen die Angst nehmen, auf die Straße zu gehen – das heißt, für stolperfreie Gehwege sorgen, Bänke aufstellen, auf denen sie sich ausruhen können, und Toiletten in erreichbarer Entfernung schaffen.

Verändern sich die Rahmenbedingungen, hat dies in der Regel stets Auswirkungen auf das Verhalten. Verhältnis- und Verhaltensprävention müssen deswegen stets ineinandergreifen.

GERNOT KIEFER, stellvertretender Vorstandsvorsitzender des GKV-Spitzenverbands und Vorsitzender der Nationalen Präventionskonferenz (NPK) 2020

„Make the healthy choice the easier choice.” Dieses Prinzip der Nationalen Präventionskonferenz – alle Lebenswelten, in denen Menschen im Laufe ihres Lebens Zeit verbringen, so zu verbessern, dass sie gesundes Verhalten einfach machen, sollte auch zukünftigen Reformen des Präventionsgesetzes zugrunde liegen. „Die nationale Präventionsstrategie ist darauf ausgerichtet, Lebenswelten wie Kommunen, Kitas, Schulen, Betriebe und Pflegeeinrichtungen so zu gestalten, dass sie gut für unsere Gesundheit sind. Hieran soll auch eine Weiterentwicklung festhalten“, sagt der NPK-Vorsitzende Gernot Kiefer. 

Gute Absichten in professionell umgesetzte Taten münden zu lassen, gestaltet sich in der Praxis nicht immer einfach. So bemühen sich beispielsweise viele – insgesamt sinnvolle – Initiativen um die Vermittlung von gesunder Ernährung im Unterricht. Doch gleichzeitig werden an vielen Schulkiosken weiterhin klassische Dickmacher verkauft – Pommes und Currywurst, Süßigkeiten und Softdrinks. „Die Aufklärung über eine vernünftige Ernährung muss sich auch im Angebot an der Schule wiederfinden. Nur so lässt sich Verhaltens und Verhältnisprävention wirksam verzahnen“, sagt Prof. Pott. 

Die ehemalige BZgA-Direktorin, die in Deutschland für die erfolgreiche HIV-Aufklärungskampagne verantwortlich war, bemängelt auch eine zu zögerliche Reform von Strukturen. 

Viele Akteure in Deutschland arbeiten seit Jahren nebeneinanderher, statt ihre Initiativen zu koordinieren.

PROF. DR. ELISABETH POTT, ehem. Mitglied G-BA und SGW-Stiftungsrat

Auch fehle es oft an Willen und Geld, Projekte wissenschaftlich fundiert auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen. Doch erst, wenn Präventionsmaßnahmen professionell durchgeführt, wissenschaftlich begründet und langfristig aufgebaut würden, könnten sie wirken. 

Interdisziplinär zusammenarbeiten  Button: Infokorb-Ablage In den Infokorb legen

Die Verzahnung aller beteiligten Akteurinnen und Akteure ist auch für den NPK-Vorsitzenden Kiefer wesentlich: „Da der Gesundheitszustand maßgeblich von Faktoren außerhalb des Gesundheitswesens geprägt wird, sollte es selbstverständlich sein, dass nicht nur das Gesundheitsamt mitwirkt, sondern weitere kommunale Verwaltungseinheiten, zum Beispiel aus den Bereichen Kinder und Jugend, Soziales oder auch Wirtschaft und Verkehr.“ Alle relevanten Ressorts müssten alles daransetzen, das Initiierte nachhaltig zu machen.

Der erste Präventionsbericht der Nationalen Präventionskonferenz zeigt, dass inzwischen mehr Geld in Maßnahmen investiert wird, die die Prävention verbessern sollen. 1,827 Milliarden Euro gaben alle Akteure und Akteurinnen des Gesundheitsbereichs 2017 zusammen für Prävention aus. Das sind 561 Millionen Euro mehr als noch fünf Jahre zuvor. Zum Vergleich: Die Gesamtausgaben aller Ausgabenträger im Gesundheitssektor lagen im selben Jahr laut Statistischem Bundesamt bei 376 Milliarden Euro und sind 2018 auf 391 Milliarden Euro gestiegen. Es gibt also durchaus noch Luft nach oben. Prof. Thaiss, die Leiterin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, betont: „Es braucht den Paradigmenwechsel weg vom reinen Blick auf die Kuration, um die Potenziale von Prävention und Gesundheitsförderung sichtbarer zu machen – und um damit vermeidbaren Krankheiten gezielter vorbeugen und sie im besten Fall verhindern oder zumindest frühzeitig erkennen zu können.“

Schlagwörter