Sprechstunde_digital: Wer findet sich im digitalen Gesundheitswesen zurecht?

Berlin, 10. November 2021 - Die Digitalisierung im Gesundheitsbereich nimmt langsam Fahrt auf. Dennoch liegt in Deutschland noch vieles im Argen. Was gut und was schiefläuft, was besser gemacht werden sollte und was Patienten tun können, um an den neuen, digitalen Entwicklungen teilzuhaben, diskutierten namhafte Experten bei der achten SPRECHSTUNDE der Stiftung Gesundheitswissen in Kooperation mit ZEIT Doctor am 10. November 2021 in Berlin. "Tür zu, Laptop auf: Wer findet sich im digitalen Gesundheitswesen zurecht?" lautete der Titel der Online-Veranstaltung.  Für alle, die nicht dabei sein konnten, gibt es hier eine Zusammenfassung und die Aufzeichnung.

Auf dem Podium:

  • Prof. Dr. med Ferdinand M. Gerlach, Vorsitzender des Stiftungsrats der Stiftung Gesundheitswissen, Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, sowie Vorsitzender der Deutschen Stiftung für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DESAM), 
  • Prof. Dr. Dr. Dr. Dominik Groß, Medizinethiker mit dem Fokus auf Technikethik und Digitalisierung in der Medizin, Direktor am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der RWTH Aachen sowie 
  • Frau Prof. Eva Hummers, Allgemeinmedizinerin mit konkreten Erfahrungen mit Video-Konsultationen, Vizepräsidentin der DEGAM und Leiterin des Instituts für Allgemeinmedizin Universitätsmedizin Göttingen Georg-August-Universität. 

Moderiert wurde der Abend von Claudia Wüstenhagen, leitende Redakteurin für das Ressort Gesundheit von ZEIT ONLINE.

Digitale Helfer im medizinischen Alltag nutzen

Ob Videosprechstunde, ein Impfpass auf dem Smartphone oder die elektronische Patientenakte – dies ist keine Zukunftsmusik mehr. Immer mehr digitale Helfer halten Einzug in den Behandlungsalltag. So schilderte Prof. Eva Hummers, Leiterin des Instituts für Allgemeinmedizin in Göttingen, wie eine von ihrem Institut entwickelte App es erlaubt, mit den Patienten in 39 verschiedenen Sprachen zu kommunizieren. „Die funktioniert und ist evaluiert“, betonte Hummers.

Ähnliches gilt für den „digitalen Notfallassistenten“. Wie der Medizinethiker Prof. Dominik Groß aus Aachen erklärte, können damit aus dem Krankenwagen Daten an das Krankenhaus geschickt werden, in das der Patient gebracht werden soll. Das Krankenhaus kann sich damit besser auf den Fall und die Therapiemöglichkeiten einstellen. „Man kann dadurch sehr viel Zeit gewinnen und damit Leben retten“, so Groß.

Von anderen Ländern lernen

Die beiden Beispiele zeigten: „Daten teilen, heißt besser heilen“, erklärte Prof. Dr. Ferdinand M. Gerlach, Vorsitzender des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. Doch gerade hier hinke Deutschland stark hinterher: „In Deutschland ist es nicht so, dass Ärzte im Krankenhaus auf die Patientendaten aus anderen Praxen zugreifen können.“ Wenn in einer Notfallsituation Patienten unvollständige oder falsche Angaben machten, könne das unter Umständen lebensgefährlich sein. „Die Leute wissen nicht, dass man am Datenschutz auch sterben kann“, pflichtete Prof. Hummers ihm bei.

Wer heute seine elektronische Patientenakte nutzen wolle, sei oft enttäuscht, erzählte Gerlach. Sie enthalte momentan noch kaum relevante Informationen. „Andere Länder in Europa sind uns hier zehn bis 15 Jahre voraus.“ In Dänemark oder Estland beispielsweise würden alle Befunde, Untersuchungsergebnisse, Medikamente und Impfungen in der elektronischen Akte festgehalten. Patienten könnten in Echtzeit darauf zugreifen. „Und jeder kann selbst sehen, wer wann auf die Akte zugegriffen hat“, berichtete Gerlach. 

Warum das in Deutschland nicht klappt? Diese Frage bewegte auch das Online-Publikum, das über einen Chat seine Fragen an die Experten stellen konnte. „Wir sind zu langsam, machen es zu kompliziert und zu umständlich“, brachte Gerlach seine Einschätzung auf den Punkt. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen habe in seinem aktuellen Gutachten ein ganzes Bündel an Maßnahmen vorgeschlagen, dem entgegenzuwirken, so Gerlach. 

Digitale Gesundheitskompetenz stärken

Dabei könnte die Kenntnis der eigenen medizinischen Daten durchaus die Rolle des Patienten stärken, erläuterte Prof. Groß. Es sei auch ein Weg der Selbstermächtigung, zu entscheiden, wer Wissen über die Daten hat und wer nicht.

Dr. Ralf Suhr, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Gesundheitswissen, sieht auf die Patientinnen und Patienten allerdings auch neue Herausforderungen zukommen. Sie müssten der Digitalisierung und der Informationsflut auch gewachsen sein, betonte er in seiner Videobotschaft zu Beginn des Abends. Viele täten sich immer noch schwer, im Internet zu unterscheiden, welche Informationen richtig oder falsch sind – und könnten Fake News nicht als solche erkennen. „Gesundheitskompetenz ist deshalb eine der Schlüsselkompetenzen im 21. Jahrhundert“, sagte Suhr.

Portrait Dr. Ralf Suhr

„Gesundheitskompetenz ist eine der Schlüsselkompetenzen im 21. Jahrhundert.“
Dr. Ralf Suhr, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Gesundheitswissen

Für Prof. Groß besteht die Gefahr, Patienten zu überfordern, insbesondere dann, wenn die Anwendungsrisiken nur schwer zu durchschauen sind – wie zum Beispiel bei Gesundheitsapps. Es sei bei manchen Anwendungen schwer erkennbar, was diese Apps taugten und wie die Datenströme funktionierten. Offen ist auch,  wer die Verantwortung hat, wenn die Apps nicht gut funktionierten. „Im Grundsatz ist es aber eine richtige Entwicklung, weil es die Patienten motiviert, selbst auf ihre Gesundheit zu achten“, betonte Groß. Bei den Apps, bei denen die Kosten von den Krankenkassen übernommen werden, gebe es ein Mindestmaß an Qualitätssicherung. Aber auch hier fehlen noch belastbare Daten für den Nutzen.

Alle auf dem digitalen Weg mitnehmen

Einig war sich das Podium darin, dass gerade diejenigen, die besonders von digitalen Informationen und Anwendungen profitieren könnten – zum Beispiel, weil sie chronisch krank sind – besonders schwer Zugang zu diesen Angeboten finden. Ein Ansatz könnte hier sein, Menschen über mobile Projekte in ihren Lebenswelten zu erreichen. Man müsse die Leute, die nicht so recht wüssten, wie man an Informationen komme, aufsuchen, an ihren Wissensstand anknüpfen und Lücken schließen, so Prof. Groß. 

Dr. Ralf Suhr

Symptome googeln, Terminvergabe digital, E-Rezept oder Videosprechstunde – dies ist keine Zukunftsmusik mehr. Die Digitalisierung kommt – auch im Gesundheitsbereich.
Dabei wächst die Gefahr, dass fehlende Technik und fehlendes Knowhow die Gesellschaft spaltet – in Informierte und Uninformierte. 

Niemanden zurücklassen! Gesundheitsinformationen im digitalen Zeitalter.

Aus Studien weiß man, dass ältere Menschen, Personen mit geringerer formaler Bildung ebenso wie Menschen mit chronischen Erkrankungen sich anders informieren als die Gesamtbevölkerung. Auf diese Situation gehen viele Informationsangebote noch zu wenig ein – auch mit Blick auf die fortschreitende Digitalisierung im Gesundheitswesen. 
In unserer aktuellen Studie haben wir uns als Stiftung Gesundheitswissen auf Spurensuche begeben. Am Beispiel chronischer Erkrankungen können wir zeigen, wie unterschiedlich die Informationsquellen, Fragen und Themen der verschiedenen Bevölkerungsgruppen sind. Dieses Wissen hilft, Informationsangebote so zu gestalten, dass alle einen Zugang zu Gesundheitswissen erhalten.

Menschen mit chronischen Erkrankungen – eine Bestandsaufnahme

Chronische Erkrankungen,  dazu gehören beispielsweise: Arthrose, Bluthochdruck oder Diabetes, nehmen im Alter dynamisch zu. Während ca. ¾ der Altersgruppe der 30 – 49jährigen ihren Gesundheitszustand noch als gut bis sehr gut beschreibt, kehrt sich das Bild in höheren Altersgruppen ins Gegenteil. Sowohl das Alter als auch die krankheitsbedingen Einschränkungen führen dazu, dass die Mehrheit der chronisch Erkrankten, nämlich 57%, nicht mehr berufstätig ist. Daher gehört ein überproportional großer Teil der Gruppe zu den Menschen mit sehr niedrigem Einkommen. 

Dies bedeutet, dass auch Ressourcen fehlen, die sonst in technische Geräte, Informationsmedien oder in gesundheitsfördernde Angebote investiert werden könnten.
Hinzu kommt, dass die Belastungen durch eine chronische Erkrankung viel stärkere Selbstmanagementfähigkeiten und ein viel größeres Gesundheitswissen erfordern, um am Alltag teilhaben zu können. Wie schwer das ist, zeigen unsere Daten. 25% der chronisch Erkrankten fühlen sich im Alltag eingeschränkt. Bei mehrfach Erkrankten sind es sogar 40 %. 
Weitaus bedenklicher finde ich, dass in der Gruppe mit den erheblichen Einschränkungen auch das geringste Vertrauen vorhanden ist, was den eigenen Einfluss auf die Erkrankung betrifft. 

So sagen 52 % sie hätten so gut wie keinen Einfluss auf den weiteren Verlauf der Erkrankung. In der Gruppe ohne Einschränkungen glauben das nur 24 %. 

Diese Einschätzung kann z.B. mit immer wiederkehrenden Schmerzen oder anderen Belastungen erklärt werden. Gleichzeitig wird es schwieriger, optimistisch auf unterstützende Angebote zuzugehen. 
Die Verfügbarkeit von Informationen über das Leben mit einer Erkrankung ist daher elementar. 

Ein entsprechend großes Interesse an Gesundheitsinformationen ist bei Menschen mit chronischen Erkrankungen vorhanden – deutlich größer sogar als in der Allgemeinbevölkerung. Dies betrifft vor allem Informationen, die die eigene Situation aufgreifen, wie die Wirksamkeit von medikamentösen und nicht-medikamentösen Therapien, die Wahl von Ärzten und Krankenhäusern oder den Verlauf der Erkrankung. Auch die Rechte von Patienten sind ein wichtiges Thema.

Zum Vergleich: Das Informationsinteresse von nicht chronisch Erkrankten sieht deutlich anders aus. Aber nicht nur Themen sind verschieden, es sind auch die bevorzugten Informationsquellen, die sich unterscheiden. So werden Gespräche mit Haus- und Fachärzten und mit Freunden verstärkt zur Information genutzt. Auch bei Apothekenzeitschriften und bei Beiträgen im Fernsehen fallen die Unterschiede auf. 

Dies führt zu der Situation, dass Informationen immer häufiger digital vorhanden sind, die bevorzugten Informationsquellen aber analoger Art sind – zumindest im Moment noch. 
Daraus ergeben sich zentrale Fragestellungen: Wie können Menschen mit den Informationen versorgt werden, die sie konkret benötigen? Muss sich dafür das Gesundheitswesen ändern, das gerade auf den Weg der Digitalisierung eingebogen ist? Müssen sich die Menschen verändern, damit sie mit der Digitalisierung mithalten können? Oder müssen sich System und Menschen verändern? 

Diese Fragen werden umso brisanter, wenn es um Menschen mit dringenden gesundheitlichen Bedarfen geht, wie ältere, chronisch erkrankte oder finanziell schlechter gestellte. 

Ich glaube, hier braucht es einen gesamtgesellschaftlichen Ansatz, damit alle an unserer digitalisierten Wissensgesellschaft teilhaben können. Es geht nicht mehr nur darum, Informationen weiterzugeben. Es geht auch darum, die Kompetenzen zu vermitteln, die nötig sind, um Gesundheitsinformationen zu finden, zu verstehen, zu bewerten und anzuwenden. Zu dieser Aufgabe können nicht nur Ärztinnen und Ärzte oder Lehrerinnen und Lehrer beitragen, sondern auch alle Anbieter von verlässlichen Gesundheitsinformationen.  Der Leitspruch unserer Stiftung „Wissen ist gesund“ bekommt in einem Zeitalter der Digitalisierung eine besondere Bedeutung. Stärker als zuvor geht es darum, niemanden zurücklassen – und allen zu ermöglichen, etwas für ihre eigene Gesundheit zu tun.

Wie Dr. Suhr in diesem Zusammenhang betonte, ist hier ein gesamtgesellschaftlicher Ansatz nötig. „Es geht nicht mehr nur darum, Gesundheitsinformationen weiterzugeben. Es geht auch darum, die Kompetenzen zu vermitteln, die nötig sind, um Gesundheitsinformationen zu finden, zu verstehen, zu bewerten und anzuwenden.“

Hier könnten auch – wie Prof. Hummers ausführte – die Hausärzte und -ärztinnen eine wichtige Rolle spielen: „Gesundheitsberatung ist sowieso eine hausärztliche Aufgabe. Früher hätte man einen Flyer mitgegeben, heute gibt es die Möglichkeit, auf digitale Angebote zu verweisen“, so Hummers.

„Die Informationen, die die Stiftung Gesundheitswissen und andere anbieten, müssen mit denen der Hausärzte verzahnt werden“, ergänzt Prof. Gerlach. Denn wie eine Studie der Stiftung Gesundheitswissen gezeigt habe, vertraute die Mehrheit der Patienten ihrem Ärzte und Ärztinnen am meisten. Erst wenn Vertrauen und Informationen zusammenkämen, könnten die Informationen wirksam werden.

Sie wollen mehr zum Thema erfahren?

Die Digitalisierung bietet in vielen Bereichen neue Chancen – auch und gerade in der Medizin. Welche Herausforderungen bringt das mit sich? Und welche Trends zeichnen sich im Gesundheitswesen ab? In der Rubrik „E-Health & Trends“ klärt die Stiftung Gesundheitswissen über die Digitalisierung im Gesundheitswesen auf.

Quellen und Hinweise

Unsere Gesundheitsinformationen können eine gesundheitsbezogene Entscheidung unterstützen. Sie ersetzen nicht das persönliche Gespräch mit einem Arzt oder einer Ärztin und dienen nicht der Selbstdiagnostik oder Behandlung

Erstellt vom Team Stiftung Gesundheitswissen.

Dieser Text wurde ursprünglich am 04.11.2021 erstellt und wird regelmäßig überprüft.

Informationen dazu, nach welchen Methoden die Stiftung Gesundheitswissen ihre Inhalte erstellt, können Sie hier nachlesen.

Bei der Erstellung dieser Gesundheitsinformationen lagen keine Interessenkonflikte vor.

Alle unsere Informationen beruhen auf den derzeit besten verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnissen. Sie stellen keine endgültige Bewertung dar und sind keine Empfehlungen.

Auch wenn Zahlen den Eindruck von Genauigkeit vermitteln, sind sie mit Unsicherheiten verbunden. Denn Zahlen aus wissenschaftlichen Untersuchungen sind fast immer nur Schätzwerte. Für den einzelnen Menschen lassen sich keine sicheren Vorhersagen treffen.

Weitere wichtige Hinweise zu unseren Gesundheitsinformationen finden Sie hier.